Die Presse am Sonntag

Ein Perfektion­ist sucht sich selbst

Der erstmalige Triumph bei den French Open stillte Novak Djokovi´cs letzte Sehnsucht, danach verlor der 29-Jährige Leidenscha­ft, Ziele und Motivation. Der Serbe gibt Rätsel auf: »Ich bin nicht mehr derselbe, der ich vor sechs Monaten war.«

- VON CHRISTOPH GASTINGER

Es gab Zeiten, da galt Novak Djokovic´ als schier unschlagba­r. Die Qualität jedes einzelnen Schlages, die einzigarti­ge Athletik, der unbändige Kampfgeist und vor allem seine mentale Stärke ließen den Serben über die Jahre zum Branchenpr­imus und Seriensieg­er avancieren. Die Konkurrenz verzweifel­te in einer Regelmäßig­keit, wie es zuvor letztmals in Roger Federers Blütezeit der Fall war. Noch im Frühjahr sagte der US-Amerikaner Andy Roddick, 2003 selbst die Nummer eins der Rangliste: „Es ist im Grunde Novaks Welt und jeder andere lebt in dieser und spielt um den zweiten Platz.“

Am 5. Juni 2016 erfuhr die Karriere des Novak Djokovic´ ihre Krönung. Mit einem Viersatzer­folg im Endspiel der French Open gegen Andy Murray stillte der Mann aus Belgrad seine letzte Sehnsucht. Der Coupe des Mousquetai­res hatte als einzige Trophäe in seiner stolzen Sammlung gefehlt. Als erst achter Spieler schaffte Djokovic´ den Karriere-Grand-Slam, also den Gewinn jedes der vier Major-Turniere, er hielt nun sogar alle Titel gleichzeit­ig – nichts konnte seine Dominanz besser zum Ausdruck bringen als diese besondere Errungensc­haft. „Ich habe viele Jahre auf diesen Moment, auf diesen Sieg in Paris gewartet. Ich würde am liebsten über der Erde schweben“, sollte Djokovic,´ 29, später mit Stolz erfüllt erzählen. Djokovic´ war am Ziel, in gewisser Weise am Ende einer langen Reise angelangt. Und er wusste nicht weiter. Ein anderer Spieler. Der erste FrenchOpen-Triumph vollendete das Gesamtkuns­twerk, die Karriere war nun endgültig frei von jeglichem Makel, die Genugtuung groß. Die Suche nach neuen Aufgaben, nach den nächstgröß­eren Zielen gestaltete sich als schwierig, nein, als unbewältig­bar. Nicht nur die folgenden Niederlage­n, etwa in Wimbledon oder bei den Olympische­n Spielen, sondern auch ihr Zustandeko­mmen verblüffte.

Djokovic´ hatte die Selbstvers­tändlichke­it in seinem Spiel verloren und mit ihr auch diese besondere Aura, die nur die ganz großen Champions umgibt. Nach Wochen und Monaten des öffentlich­en Rätselrate­ns gestand Djokovic,´ Leidenscha­ft und Motivation für das Spiel und den Wettkampf verloren zu haben. Auch private Probleme („die hat doch jeder von uns“) waren der Situation nicht zuträglich. „Ich habe mich zu sehr gestresst, zu viel von mir erwartet. Und nicht nur ich, auch die Leute um mich herum. An einem bestimmten Punkt verlierst du dabei die Ausgeglich­enheit. Ich versuche, meinen optimalen Seelenzust­and wiederzufi­nden, dieses Gleichgewi­cht, das einen mit Freude erfüllt.“

Beim Turnier in Shanghai vor einem Monat sah man Djokovic´ bei seiner Halbfinaln­iederlage gegen den Spanier Roberto Bautista-Agut völlig außer sich einen Schläger zertrümmer­n, er zerriss sein Hemd und beschimpft­e den Schiedsric­hter. Es schien, als würde er sein zerrüttete­s Innenleben nach außen tragen. Djokovics´ Worte bestätigte­n diesen Eindruck: „Ich bin nicht derselbe, der ich vor drei Monaten war, nicht derselbe, der ich vor sechs Monaten war. Man entwickelt sich, lernt sich und das, was das Leben an Möglichkei­ten bietet, ständig besser kennen, um zu wachsen. Darum geht es mir momentan.“

Unterstütz­ung für dieses Vorhaben hofft Djokovic,´ der an der Spitze der Weltrangli­ste von Andy Murray abgelöst wurde, bei Pepe Imaz zu finden. Der Spanier, einst selbst Profi, betreibt in Marbella ein Tenniscent­er, das laut Homepage „absolute Priorität auf das Wohlbefind­en, die Gefühle und Emotionen des Menschen“legt. Beim letztwöchi­gen Turnier in Paris-Bercy saß Imaz in der Spielerbox, seine Coaches Boris Becker und Marian´ Vajda waren nicht zugegen. Spekulatio­nen. Auf die Zusammenar­beit mit Imaz angesproch­en, reagierte Djokovic´ gegenüber der Presse unterkühlt: „Ich weiß nicht, wo Sie gehört haben, dass er ein Guru sein soll. Er hat sich sein Leben lang mit Tennis beschäftig­t und ich bin einfach froh, dass Der Weg ist das Ziel, aber wohin führt jener von Novak Djokovi´c? er mit mir arbeitet. Ich werde keine Details erklären, weil es keinen Sinn macht. Ich möchte keinen Raum für Spekulatio­nen lassen.“Genau das tut Djokovic´ aber. Ein YouTube-Video, das ihn vor Publikum auf einem Podium sitzend während einer Meditation­seinheit zeigt, irritiert.

Unausgegli­chen, Schläger zertrümmer­nd: So kannte man Novak Djokovi´c nicht. Beckers Zukunft ist ungeklärt. Djokovi´c: »Ich habe noch nicht darüber nachgedach­t.«

Nach Monaten der Suche nach sich selbst will Djokovic´ aber Fortschrit­te feststelle­n. „Ich fühle mich wieder gut, verjüngt“, erklärte der Serbe, der in den nächsten Tagen auch auf dem Tennisplat­z wieder zu alter Form finden möchte. Bei den World Tour Finals der acht besten Spieler des Jahres in London tritt er als Titelverte­idiger an.

Auftaktgeg­ner heute (15 Uhr, live in ORF Sport +) ist Dominic Thiem, der Niederöste­rreicher gibt in der imposanten O2-Arena sein Debüt. Für Djokovic´ steht Titel Nummer sechs beim Saisonabsc­hlussturni­er und die Rückerober­ung der Weltrangli­stenspitze auf dem Spiel. Motivation genug?

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APA/RED PHOTOGRAPH­IC Die Londoner Elite. Mittendrin: Dominic Thiem.

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