Aus dem Nest gestoßen
Cynthia D’Aprix Sweeney hat einen witzigen Gesellschaftsroman über die New Yorker MöchtegernHigh-Society geschrieben. Ein gelungenes Debüt.
Der in jüngster Zeit häufig zu hörende Vorwurf, dass manche Menschen in einer Blase leben, trifft auch auf die vier Protagonisten in Cynthia D’Aprix Sweeneys Debüt „Das Nest“zu. Leo, Jack, Bea und Melody sind Geschwister, die, sobald die Jüngste, Melody, ihren vierzigsten Geburtstag erreicht hat, Geld aus einem Fonds ausbezahlt bekommen, den der Vater für sie angelegt hat. Alle sehnen diesen Tag herbei, denn die Blase droht zu platzen. Jack, verpartnert mit einem erfolgreichen Anwalt, führt ein schlecht gehendes Antiquitätengeschäft und hat, um die Schulden loszuwerden, das gemeinsame Sommerhaus in Long Island verpfändet – und zwar, ohne es seinem Mann zu sagen. Bea ist seit Jahren erfolglose Schriftstellerin und fristet ein Dasein bei einer Miniliteraturzeitschrift. Melody hat die Universität abgebrochen und eine neue Aufgabe im Muttersein gefunden. Leider sind die Raten für das schnuckelige Häuschen in der Vorstadt so hoch, dass ihre Zwillinge vielleicht gar ein staatliches College besuchen müssen. Dabei verkauft Melody bereits ihre Preziosen – Möbel der Art-and-Crafts-Bewegung der Jahrhundertwende, einen StickleyTisch, einen Barcelona-Sessel. Doch auch das wird nicht reichen. Das Erbe – von den Familienmitgliedern als Running Gag das Nest genannt – muss her.
Die große Enttäuschung: Das Nest wurde geplündert. Von Leo, der mithilfe der zeichnungsberechtigten Mutter fast das gesamte Geld abgehoben hat. Leo betrieb einst ein viel gelesenes Satiremagazin. Der Mühsal mit den Angestellten und Praktikanten müde, verkaufte er es und pflegt seither nur mehr sein Image als nimmersatter Womanizer. Unterstützt wird er in seinem anstrengenden Tun von jeder Menge Kokain. Als er eines Tages drogenvernebelt einen Unfall verursacht, wird es brenzlig. Ihm selbst ist nicht viel passiert, er wird nur zu einem Aufenthalt in einer Entzugsklinik verdonnert. Aber die knapp 19-jährige Kellnerin, die mit ihm im Auto saß, wird schwer verletzt. Da heißt es zahlen, um den Skandal zu vertuschen.
Der Roman sei so köstlich, dass man ihn in einer Nacht verschlinge, schrieb „Entertainment Weekly“. Schnelle Konsumierbarkeit ist kein Kriterium für Qualität. In diesem Fall aber schon. Tatsächlich ist es ein gelungenes Debüt mit spritzigen Dialogen und einer ansprechenden Struktur. Zu liebenswürdig. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Snowtober, Der Kuss, Findet Leo. Besonders gut geglückt ist der Mittelteil, in dem der Kuss zum immer wieder variierten Leitmotiv wird, einmal wenn Melodys Zwillinge erste sexuelle Erfahrungen sammeln, wenn sich der Herausgeber des Literaturmagazins überlegt, ob er Beatrice nach all den gemeinsamen Jahren doch küssen sollte, oder wenn plötzlich die berühmte Statue von Auguste Rodin, „Der Kuss“, eine Rolle spielt – im Zusammenhang mit der großen Tragödie New Yorks, der Attacke auf die Twin Tower. Ein Feuerwehrmann findet die Bronzeskulptur im Schutt und nimmt sie an sich, weil ihn die Statue an das Zusam- mensein mit seiner Frau erinnert, die bei dem Attentat starb. Nun will der schwule Jack sie dem Feuerwehrmann abjagen, um mit dem Gewinn das Haus in Long Island auszulösen.
Dass „Das Nest“trotz seiner Vorzüge nicht der ganz große Wurf geworden ist, liegt an den Figuren. Sie sind humorvoll und facettenreich dargestellt – und natürlich überzeichnet. Das ist legitim. Leider führt diese Überzeichnung nicht ins für diese Welt durchaus angebrachte Skurrile, sondern an manchen Stellen ins Klischee. Es wirkt, als habe die Autorin im langen Prozess des Schreibens so viel Sympathie für ihre Geschöpfe entwickelt, dass sie, statt die Geschwister in all ihrer Abgründigkeit zu zeigen, dann doch auf liebenswürdig-schrullig eingeschwenkt ist. Dafür sind sie aber definitiv nicht nett genug.