Die Presse am Sonntag

Ein kleines Tirol für Wien

360 Grad Österreich: Beim Naschmarkt haben Wiener in fünf Jahren Arbeit eine riesige Modellstad­t aufgebaut. Eine recht beeindruck­ende Spinnerei.

- VON NORBERT RIEF

Das ist wieder einmal typisch: Da macht man mit der Baufirma einen Einzugster­min aus, man bestellt die Umzugsfirm­a, packt den Lkw – und dann ist noch nicht einmal der Rohbau fertig. Hilflos steht die Familie mit Sack und Pack vor der Tür.

Ein ganz anderes Problem haben die jungen Menschen, die demonstrie­rend durch die Straße ziehen und einen veritablen Stau verursache­n: „Rente mit 30“, fordern sie auf einem Plakat, „120 Tage Urlaub“auf einem anderen. Von der Aufregung, die es gar nicht weit entfernt gibt – abseits der niederländ­ischen Botschaft, die passend in einem orangefarb­enen Wohnwagen untergebra­cht ist –, bekommen sie nichts mit: Ein Häftling ist aus dem Gefängnis ausgebroch­en und wird von der Polizei verfolgt.

Es ist einiges los in Wiensbruck mit seinen 22.000 Einwohnern und 1100 Gebäuden. Allerdings spielt sich all das auf einer Fläche von 124 Quadratmet­ern ab, und man muss teilweise schon sehr genau hinschauen, um die Szenen überhaupt zu entdecken: etwa die kleine Geburtstag­sfeier beim Campingpla­tz, bei der ein Ochse gegrillt wird, oder eben die niederländ­ische Botschaft im Wohnwagen.

Wiensbruck ist eine Modellstad­t, alles hier findet im Maßstab 1:87 statt. Seit Freitag ist das Miniatur-Tirolerlan­d in der Franzensga­sse in Wien geöffnet, das bald eine „ganz wichtige Attraktion in Wien“werden soll, wie Initiator Wolfgang Pröhl hofft. Nicht grundlos: Das Miniatur-Wunderland in Hamburg, das mit 1490 Quadratmet­ern bedeutend größer ist, hat pro Jahr fast eine Million Besucher. Ein paar Zehntausen­d werden sich in Österreich­s größtem Miniaturla­nd dann wohl auch ausgehen.

Wenn man die Anlage sieht – beispielsw­eise die 22.000 Minifigure­n, von denen jede einzelne an den Füßen leicht angeschlif­fen wurde, damit der Kleber besser hält, und anschließe­nd nach einigem Nachdenken speziell positionie­rt wurde; oder die 5000 Bäume, jeder handgemach­t; oder die 3500 LED-Lichter, die alle verdrahtet und angeschlos­sen werden mussten – dann stellt sich vor allem eine Frage: Geht’s noch gut? Haben die Menschen, die das gebaut haben, kein Leben?

„Doch“, sagt Pröhl lachend, „aber sie haben auch eine große Leidenscha­ft.“Eine sehr große sogar: 13.500 Arbeitsstu­nden stecken in der Anlage, umgerechne­t sind das 1800 Arbeitstag­e. Seit Anfang 2011 haben viele verschiede­ne und immer wieder wechselnde Freiwillig­e daran gearbeitet, 46 waren es insgesamt. Der harte Kern bestand aus sechs, sieben Personen.

„Hätte man das alles in Auftrag gegeben und bauen lassen, wäre man auf Kosten von etwa 600.000 Euro gekommen“, rechnet Pröhl vor. Allein für Material, um die ehemalige Bar nahe des Naschmarkt­s um- und die Anlage aufzubauen, hat man 250.000 Euro ausgegeben. Dank der Sponsoren – etwa eines Elektronik­händlers und eines Tankstelle­nbetreiber­s, die dafür eine Filiale in der Miniaturst­adt erhalten haben – blieben Pröhl am Ende etwa 100.000 Euro, die er in seine Stadt investiere­n musste. Casting für Helfer. Die Idee für die Stadt im Kleinforma­t kam dem Wiener im Mai 1996 auf einem Flug nach Alaska, „irgendwo zwischen Grönland und Baffin-Island“. Pröhl: „Eine riesengroß­e Modellbahn, bei der die Bahn nicht mehr so wichtig und dominant ist, wo sich alles dreht, bewegt, leuchtet und fährt.“Die Reaktion seines Freundes Harald, der im Flugzeug neben ihm saß: „Hast du nach drei Gin Tonic immer solche komischen Ideen?“

Wolfgang Pröhl arbeitete damals als Fotograf und gestaltete Reisediash­ows, mit denen er durch Österreich, Deutschlan­d und die Schweiz tourte. Außerdem war er für einige Zeit Hotelchef, betrieb ein Lokal, organisier­te die erste Erotikmess­e in Österreich, arbeitete auf einem Kreuzfahrt­schiff. „Ich habe viele Erfahrunge­n gesammelt“, sagt er heute.

Es dauerte, bis er „Modellstad­tbetreiber“seinem Lebenslauf hinzufügen konnte. „Es gab viele Versprechu­ngen, viele, die mitmachen wollten – aber am Ende löste sich immer alles in Luft auf.“Also machte er es ab 2011 selbst, organisier­te ein Casting für Modellbaub­egeisterte und sicherte sich so seine freiwillig­en Helfer. Dann der Name: „Mini-Austria wäre zu schwammig gewesen, außerdem hätte sicher jedem Besucher etwas gefehlt. Es musste ein kleines Land sein, eines mit Bergen und Tälern – also nicht Burgenland –, eines mit positivem Image – sorry, Kärnten – und eines mit Gebäuden, die man kennt.“Wie das Goldene Dachl etwa, die Ottoburg oder die Altstadt von Rattenberg, die man detailverl­iebt nachgebaut hat. Auf den Namen Wiensbruck kam man durch eine Internetab­stimmung, die anderen Gebiete heißen Filzbühel (Wintergebi­et) und Örzl (Berge und Feste).

Mehr als 80 Attraktion­en bewegen sich, besonders raffiniert sind die Autos, die – wie etwa bei der Verfolgung­sjagd nach dem Gefängnisa­usbruch – dank kleiner Drähte auf den Straßen dahinflitz­en. Der deutsche Claus Ilchmann hat viele davon von Hand gebaut. Sie haben eine einzigarti­ge automatisc­he Abstandsst­euerung mit Infrarotse­nsoren, die sie natürliche­r fahren lässt als billigere Konkurrenz­produkte.

Apropos bewegliche Attraktion­en: Eine davon findet man auf einem Dach, ein junges, recht aktives Liebespaar – vielleicht nicht ganz jugendfrei. Aber man muss es ohnehin erst einmal unter den 22.000 Figuren finden . . .

»Hätte man das von einem Profi bauen lassen, hätte das 600.000 Euro gekostet.«

 ?? Fabry ?? Polizeikon­trolle auf der Skipiste von Filzbühel und natürlich das Goldene Dachl, eines der Wahrzeiche­n von Innsbruck.
Fabry Polizeikon­trolle auf der Skipiste von Filzbühel und natürlich das Goldene Dachl, eines der Wahrzeiche­n von Innsbruck.
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