Das raue Leben im Osten Londons um 1900
»MENSCHEN DER TIEFE«
Jack Londons politische Essays (etwa „War of the Classes“) sind so chronisch vergriffen wie seine politische Dystopie „Die eiserne Ferse“. Doch auch „The People of the Abyss“, seine Reportage aus dem elenden Ostlondon um 1900, zeigt ihn, den praktizierenden Individualisten, als glühenden Gefühls- und Verstandessozialisten – und als Undercover-Reporter, als Vorgänger Günter Wallraffs sozusagen. Und als Seelenverwandten des Wiener Arbeiterschriftstellers Alfons Petzold: An dessen Buch „Das raue Leben“erinnern Londons Berichte, auch in ihrer naturalistischen Wucht.
Spitalfields, Stepney, Whitechapel, Poplar: Heute sind das längst gentrifi- zierte, teils elegante Gegenden, damals lebten dort die Chancenlosen. „Vergessen Sie nicht, dass es dort Orte gibt, wo ein Menschenleben nicht zwei Schillinge wert ist“, warnte man Jack London, doch er kaufte sich verschlissenes Gewand, gab sich als arbeitsloser US-Matrose aus, mietete sich in einer Absteige ein, stellte sich um schlechtes Brot an, schlief im Gestank eines Arbeitshauses. „Man kann von der englischen Arbeiterklasse sagen, dass sie vom Bier durchtränkt ist“, schrieb er, fand aber: „Es hat keinen Sinn, diesen Menschen Mäßigkeit zu predigen.“An ihrem Elend sei „schlechte Verwaltung“schuld, und der ständige Druck auf den Arbeitsmarkt durch Zuwanderung.
Die deutsche Übersetzung (reproduziert vom Reprint Verlag Leipzig) ist alt und fehlerhaft; besser man liest die Originalversion (z. B. als Taschenbuch bei Hesperus Press, 230 S.), dabei kann man auch den Soziolekt Cockney üben.