Die Presse am Sonntag

Zur Sommerfris­che ins japanische Eismeer

DER SEEWOLF

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Rasante Einstiege wie diesen kennt man sonst nur aus dem Blockbuste­rkino: Der Privatgele­hrte Humphrey van Weyden will vor der Hitze San Franciscos in das Sommerhaus eines Freundes fliehen. Doch bei der kurzen Überfahrt nach Mill Valley kollidiert die Fähre im Nebel mit einem anderen Boot und sinkt. Als der Gerettete zu sich kommt, findet er sich auf der Ghost wieder – die zum Robbenfang­en nach Japan unterwegs ist. Sein Weg führt also innert zehn Romanseite­n nun doch nicht in die Sommerfris­che über das verlängert­e Wochenende, sondern für Monate in die Kälte des Eismeers.

Mit diesem Kniff hat Jack London seinen Leser schon am Haken, bevor noch der Titelheld die nur schlampig geschrubbt­en Planken der Ghost betritt: Kapitän Wolf Larsen führt sein Schiff mit seiner schieren Kraft, die van Weyden vom ersten Moment an fasziniert. „Mastery“nennt Jack London, der selbst schon in früher Jugend mit „Moby-Dick“im Gepäck an einer Robbenjagd teilgenomm­en hat, denn auch das Leitmotiv für seinen 1904 erschienen Erfolgsrom­an.

Der zunächst geschockte Gelehrte steigt danach nicht nur stetig in der Bordhierar­chie (von der Kom- büse ans Steuer), sondern erkrankt am Stockholm-Syndrom. Nicht nur Larsens Physis, die er mit der eines Gorillas und eines Tiger vergleicht, ziehen den verweichli­chten Intellektu­ellen fast erotisch in seinen Bann, sondern auch dessen Verstand. Das sozial-darwinisti­sche Weltbild Larsens, in dem das Leben ohne Hoffnung auf ein Jenseits und das Recht des Stärkeren propagiert wird, fordert van Weydens Glaubens- und Moralvorst­ellungen heraus: „Sie (meint Larsen mit Blick auf seine Crew; Anm.) bewegen sich, aber genau das gleiche gilt auch für die Quallen.“

So erzählt dieses als Jugendbuch geltende Stück Weltlitera­tur das Kräftemess­en zweier ungleicher Protagonis­ten, die das abgelehnte Gegenüber als Reibebaum zur Weiterentw­icklung brauchen. Nach und nach erstarkt der schmalbrüs­tige Literaturk­ritiker durch die ungewohnte Betätigung an der frischen Luft auch körperlich und wird so zum ernsthafte­n Rivalen und (auch in sexueller Hinsicht) zum Mann. Seine Liebe zur Schiffbrüc­higen Maud Brewster veranlasst ihn endgültig, den Kampf mit Larsen aufzunehme­n.

Am Ende erweist sich die als Horrortrip begonnene Reise als Glücksfall für van Weyden und den Leser, während Larsens Schicksal seine eigenen Theorien verifizier­t. Wer mit dem Buch vor allem den rohe Kartoffeln zerquetsch­enden Kapitän verbindet, wird sich beim (Wieder-)Lesen unversehen­s woanders wiederfind­en. Fast wie Humphrey van Weyden.

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