»Der Städter hält das Dorf für einen Zoo«
Sind Dorfbewohner toleranter? Juli Zeh ist vor zehn Jahren aufs Land gezogen und hat ihre Erfahrungen in den Roman »Unterleuten« einfließen lassen. Im Gespräch ärgert sich die deutsche Schriftstellerin über spießige Städter und erklärt, warum sie seit etw
In letzter Zeit häufen sich Romane, die auf dem Land spielen. Erleben wir gerade eine Renaissance der Dorfgeschichte? Juli Zeh: Da reagiert die Literatur auf ein gesellschaftliches Phänomen: Das Land ist in den Fokus gerückt. Zum Teil, weil wirklich immer mehr Städter aufs Land ziehen, zum größeren Teil aber, weil sie sich nur vorstellen, es zu tun. Und dann bedeutet Land in der Literatur nicht mehr dasselbe wie früher: Es geht nicht mehr so sehr um Heimat, um den Ort, in dem man seit zehn Generationen verwurzelt ist, und an dem man sich abarbeiten muss, sondern es ist mehr ein Sehnsuchtsort, eine Gegenwelt. Einerseits. Andererseits ist wichtig, sich mit diesem Begriff neu auseinanderzusetzen, weil wir ja in ganz Europa nicht nur die Sehnsucht nach dem Dorf haben, sondern weiter, nach dem Dorf der Fünfzigerjahre. Da herrscht ein reaktionärer Wunsch nach einer Zeit, als es noch Nationalstaaten gegeben hat und die Welt noch klein war und noch nicht so viel von außen eingedrungen ist. Aber ich finde, man sollte diesen Begriff nicht von dieser Seite vereinnahmen lassen. Aber Idylle ist das keine: Gleich auf den ersten Seiten von „Unterleuten“stinkt es. Ja, der Roman beginnt mit dem Scheitern dieser Sehnsucht. Aber meine eigenen Erfahrungen sind nicht negativ, tatsächlich war es eine der besten Entscheidungen meines Lebens, aufs Land zu ziehen. Einerseits bot mir das einen Ausweg aus der Beliebigkeit: Wenn man auf dem Dorf lebt, zumal wenn man ein Haus besitzt, sind Dinge nun einmal, wie sie sind: Man hat bestimmte Nachbarn, man lernt Leute kennen, weil die da wohnen, und nicht, weil sie das Gleiche studiert haben. Ich finde es schwierig, in einer Stadt von Heimat zu reden. Weil die Beziehungen nicht gegeben sind, sondern gewählt. Das schafft nicht dieselbe Verbundenheit mit Menschen und Orten. Und dann erlebe ich meine Dorfbevölkerung als 17.000-mal toleranter und großzügiger als die Städter. Hier gibt es wirklich noch den Exzentriker als völlig normale und akzeptierte Figur. Ist der Städter intolerant? In der Stadt herrscht ein krasser Homogenitätsdruck, man kann auch sagen: Spießigkeit. Ich habe den Alltag nicht mehr ausgehalten, weil mir jeden Tag irgendeiner, ob in Uniform oder nicht, erklärt hat, dass das, was ich mache, so nicht okay ist. Ich lasse mir gern sagen, wenn ich einen Fehler mache, aber ich lasse mich nicht annörgeln, weil der Hund nicht angeleint ist, ich die Schuhe vor die Türe stelle, ich rauche, wo man nicht rauchen, ich sitze, wo man nicht sitzen soll. Das hat mich zu einem griesgrämigen Menschen gemacht. Ich habe beobachtet, dass Leute in der U-Bahn handgreiflich geworden sind, weil jemand das Fahrrad falsch abgestellt hat. Und ich denke mir: Woanders fliegen Bomben, und ihr prügelt euch wegen des Platzes für das Fahrrad? Auf dem Land ist es besser? Im Dorf macht jeder zuerst sein Ding und das völlig frei von Verurteilung – es bleibt nur die Frage: Wo kollidiert man aus irgendwelchen Gründen mit anderen und wie sehr? Aber diese Frage stellt sich erst bei einem tatsächlichen Konflikt. Man fühlt sich nicht schon allein dadurch gestört, wie einer lebt. Die Integration in eine Dorfgemeinschaft ist aber angeblich auch nicht so einfach. Das hängt stark von einem selbst ab. Oft habe ich beobachtet, dass Menschen, wenn sie aufs Land ziehen, den Dorfbewohnern nicht auf Augenhöhe
1974
in Bonn geboren. Juli Zeh studierte Europaund Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau.
2001
erschien ihr Debütroman „Adler und Engel“(2001), es folgten unter anderem „Spieltrieb“, „Schilf“und „Nullzeit“. Zehs Werke wurden in 35 Sprachen übersetzt.
2006
kam „Alles auf dem Rasen“in die Buchhandlungen, es folgten Essays zu Gesellschaft, Politik und Literatur. Zusammen mit Ilija Trojanow schrieb sie „Angriff auf die Freiheit“(2009) – über den Überwachungsstaat und den Abbau bürgerlicher Rechte.
2016
Juli Zehs „Unterleuten“ist ein vielstimmiger Roman über das Leben auf dem Dorf, in dem alte Feindschaften aufbrechen, als Windkraftanlangen aufgestellt werden sollen. Juli Zeh lebt seit neun Jahren in einem Dorf im Landkreis Havelland, Brandenburg. begegnen. Sie sagen vielleicht: „Das ist so schön hier und die Leute sind so nett.“Doch dahinter steckt ein gönnerhaftes Verhalten, als sei das Dorf ein Zoo. Das spüren sie von der ersten Sekunde an. Je nach Naturell sind sie entweder gleich vergrätzt oder sie warten den ersten richtigen Fauxpas ab. Aber wenn man es schafft, sich als ein Spinner unter anderen zu betrachten, ist das mit der Integration kein Problem. Wie erklären Sie sich, dass das Land eher rechts wählt? Wie passt das mit der großen Toleranz zusammen? Ich kann das nur für mein Umfeld beantworten: Die Toleranz, die ich erlebe, bezieht sich auf real existierende Personen, die sich kennen und regelmäßig sehen. Und dann gibt es das, was wir Politikverdrossenheit nennen, ohne dass wir das ganze Ausmaß verstanden haben: Einen Clash of Civilisations zwischen Zentrum und Peripherie. Die urbanen Räume werden sich immer ähnlicher. Man kann von New York nach Tokio fliegen und das Gefühl haben, im eigenen Kulturraum zu bleiben. Aber fährt man von Berlin 50 Kilometer aufs Land hinaus, sind die Unterschiede fundamental. Die Peripherien fühlen sich abgekoppelt, das ist ein gefährliches Phänomen, eine Globalisierungsfolge. Das muss ja alles noch nicht zwingend dazu führen, dass das Land rechts wählt. Jede Form von Verunsicherung, das Gefühl, nicht dazuzugehören, führt automatisch zu Xenophobie. Das ist kein logischer Reflex, sondern ein emotionaler. Wenn jemand das Gefühl hat, er ist Außenseiter, wendet er sich aggressiv gegen andere Außenseiter. Diese Gefühle kochen über, wenn etwa Flüchtlinge kommen. Dazu kommt: Im Osten war die Nazi-Kultur tatsächlich eine Zeitlang eine Jugendkultur, so wie im Westen der Punk. Es war Ausdruck einer Protesthaltung gegen das kommunistische, das institutionell linke Regime. Und wenn man dagegen war, konnte man nicht gut noch linker sein. Was passiert, wenn Sie mit den Dorfbewohnern über Politik reden? Darüber wird nicht gesprochen. Dieses Abkoppelungsverhalten bedingt auch, dass sie sich denken: Sie interessieren sich nicht für uns, wir interessieren uns nicht für sie. Wobei es viele gibt, die trotzdem wählen gehen, und erstaunlich viele, die Volksparteien wählen, obwohl sie Gründe genug für Protest hätten: Das sind elende Gegenden, im Herzen des zweitreichsten Landes der Welt herrschen zum Teil westrussische Zustände. Es gibt nichts. Die Leute bauen Gemüse an, nicht weil es ihnen Spaß macht oder weil es öko ist, sondern weil sie darauf angewiesen sind. Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr, keine Kanalisation, der Staat macht nichts, außer die Müllabfuhr zu organisieren. Aber vielleicht ist es auch ein speziell ostdeutsches Phänomen, dass die Leute über Politik nicht reden. Wenn man in einer Diktatur aufwächst, lernt man, dass das echte Leben im Privaten stattfindet, man zieht sich in die Familie, in die Dorfstruktur zurück, da hilft man sich gegenseitig, dort ist man frei. Haben Sie eine Lieblingsfigur? Kron vielleicht. Er ist mir charakterlich am nächsten. Er ist einmal Idealist gewesen, hat sich für seine politische Überzeugung aufgeopfert, aber er ist damit gescheitert. Können Sie sich vorstellen, dass das mit Ihnen auch passiert? Das passiert mit mir ja gerade! Also ich hoffe ja nicht, dass ich so ende wie Kron, aber wie er bin ich in einem System aufgewachsen, an das ich sehr stark geglaubt habe und immer noch glaube. . . . ob Sie wegen der Kinder aufs Land gezogen sind? Nein, schon vorher. Aber seit ich Kinder habe, bin ich noch viel glücklicher, hier zu leben. Dass ich ihnen eklige Fleischwürste oder Süßigkeiten mitgeben kann, ohne dass wir aus der Kindertagesstätte geworfen werden, weil der Zucker oder der Fettanteil über vier Prozent liegt. Wenn man Kinder hat, ist man ja noch viel schneller Verfügungsmasse der Besserwisser. Und wenn man mir sagt, wie ich meine Kinder zu erziehen habe, werde ich noch wütender, als wenn man mir sagt, wohin ich mein Fahrrad zu stellen habe. . . . wie Ihr Buch über das Dorfleben im Dorf aufgenommen worden ist? Hier gibt es ja nicht viele Leute, die Bücher lesen können, und ich rede hier nicht von wollen, die können es tatsächlich zum Teil gar nicht. Wenn jemand den Roman gelesen hat, dann sind das Zugezogene. Diese erkennen dann zum Teil auch den satirischen Gehalt stärker als andere. Bei mir ist das nicht der Kommunismus, sondern die Demokratie, das ist eine Lebenseinstellung. Und jetzt macht die Demokratie schwierige Zeiten durch, und ich denke manchmal, vielleicht geht sie dem Ende entgegen oder verändert sich zumindest stark, und ich bin nicht in der Lage, mich mitzuverändern. Ich verharre stur auf meinem Neunzigerjahre-Standpunkt. Und das kann dazu führen, dass man sich abkoppelt, dass man sich in die innere Emigration begibt, zum Systemfeind wird in gewisser Weise oder zum Zyniker. Jedenfalls fühlt es sich nicht gut an. Wenn die Stimmung so aufgeheizt ist, kann man versuchen, einen ruhigen Ton anzuschlagen. Darauf ziehe ich mich manchmal zurück, das kann man ja auch mit dem kategorischen Imperativ rechtfertigen: Wenn das jetzt alle machen würden, könnte es der Gesellschaft wesentlich besser gehen – und ich glaube wirklich, dass das so wäre. Vielleicht ist es am besten, alles zu tun, um nicht das Feuer zu schüren. Aber es muss einem klar sein, dass sich damit vermutlich gar nichts ändert und dass wir im Fall des Falles in dreißig Jahren zu denen gehören könnten, die man fragt: „Warum habt ihr das bitte nicht verhindert?“ Was ist dann die Perspektive? Ich fände es ja von mir selbst schon super, wenn ich wieder Essays schreiben würde. Aber ich habe seit fast zwei Jahren eine Schreibblockade. Das ist ein Versagen, das kann man nicht schönreden, es hat nichts mit Faulheit oder Feigheit zu tun. Ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Ich kriege das im Moment nicht hin. Vielleicht ist Reden auch nicht mehr die geeignete Waffe. Man müsste in die Politik gehen, das kann ich nicht. Und deswegen stehe ich mit hängenden Armen daneben.