Die Presse am Sonntag

»Heimat ist kein rechter Kampfbegri­ff«

Um den Rechtspopu­listen etwas entgegenzu­setzen, sollten die Grünen ihre wertkonser­vativen Wurzeln wieder stärker zum Vorschein bringen, sagt ihr Parteichef in Deutschlan­d, Cem Özdemir. Gerade auch in der Integratio­nspolitik.

- VON THOMAS PRIOR

Cem Özdemir: Alexander Van der Bellen hat sich gerade per Tweet für die Glückwünsc­he bedankt. Das trifft sich gut. Ich wollte Sie gerade fragen, ob Van der Bellens Wahlerfolg ein Ansporn für die deutschen Grünen ist. Selbstvers­tändlich ist das Rückenwind für uns und für all diejenigen, die nicht glauben, dass ein Zurück zum Nationalst­aat die Antwort auf die Probleme unserer Zeit ist. Dafür steht diese Wahl. Was können die deutschen Grünen von Van der Bellen lernen? Eine offene Haltung. Dass man nicht nur mit seinesglei­chen redet, sondern sich der Gesellscha­ft öffnet. Unser Ministerpr­äsident in Baden-Württember­g, Winfried Kretschman­n, legt in meinem Bundesland auch viel Wert auf diese Art der Ansprache – und es funktionie­rt. Kretschman­n wäre ja auch beinahe Bundespräs­ident geworden. Aber die CSU hat ein Veto gegen Angela Merkels Pläne eingelegt. Nach Vejonis in Lettland und Van der Bellen in Österreich Kretschman­n in Deutschlan­d – das hätte etwas gehabt. Ärgern Sie sich über Horst Seehofer, den Parteichef der CSU? Immer wieder. Aber ich will ihn dann doch nicht auf die Stufe der FPÖ stellen. Die ist noch schärfer: in der Tonalität und inhaltlich. Aber die CSU-Spitze glaubt leider, dass sie mit ihrer Politik – rechts kopieren – Erfolg haben kann. Aber Sie finden: Das nützt nur der AfD. Wenn man etwas von Österreich lernen kann, dann dass es zwei Dinge braucht, um Rechts-außen zu besiegen: Erstens eine klare Haltung, die sich am Menschenbi­ld des Grundgeset­zes orientiert. Zweitens muss man sich um die Probleme jener Leute kümmern, die das Gefühl haben, abgehängt worden zu sein. Sonst wählen sie die falschen Leute. Van der Bellen passt eigentlich nicht in die Serie des Jahres 2016: Nach dem Brexit und Donald Trump haben die meisten mit Norbert Hofer gerechnet. Aber es war knapp. Haben Sie eine Erklärung, warum sich der Populismus weltweit im Aufwind befindet? Dafür gibt es keine einfache Erklärung. Es ist eine Mischung aus den klassische­n sozialen Gründen. Bei manchen ist es auch eine Reaktion auf Zukunftsän­gste in einer globalisie­rten Welt. Was meinen Sie mit den klassische­n sozialen Gründen? Es gibt nicht nur Gewinner der Globalisie­rung und Modernisie­rung – und diese Entwicklun­g wird sich durch die Digitalisi­erung noch beschleuni­gen. Gerade wir Grüne müssen da ehrlich sagen, wenn wir beispielsw­eise für eine Elektrifiz­ierung der Automobili­ndustrie eintreten: Das heißt dann für ein Bundesland wie Baden-Württember­g, dass wahrschein­lich nicht jeder Job eins zu eins ersetzt werden kann. Was wollen Sie Leuten anbieten, die durch die Digitalisi­erung ihre Jobs verlieren? Wir müssen den Strukturwa­ndel planen. Kein Arbeitslos­er, kein Alleinerzi­eher und kein Rentner sollte das Gefühl haben, AfD wählen zu müssen, nur damit wir ihm endlich zuhören. Bei vielen, die in Deutschlan­d AfD und in Österreich FPÖ wählen, scheinen auch kulturelle Identitäts­ängste eine Rolle zu spielen. Das ist die kulturelle Dimension. Wir dachten, dass sich die Geschichte quasi zwangsläuf­ig in unsere Richtung bewegt: immer mehr Frauenrech­te, immer mehr Schwulen- und Lesbenrech­te, eine immer buntere Gesellscha­ft, in der man sich offen begegnet. Vielleicht haben wir darüber vergessen, dass wir auch auf jene zugehen müssen, die mit diesen Entwicklun­gen nicht einverstan­den sind. Gerade in einer Einwanderu­ngsgesells­chaft. Eine Erkenntnis ist: Diese Werte müssen immer wieder neu verteidigt werden. Das haben wir in der Silvestern­acht von Köln gesehen. Wie sollte eine liberale Gesellscha­ft darauf reagieren? Im Bereich Integratio­n gehört zum Beispiel dazu, dass man über Erwartunge­n spricht, die wir Migranten gegenüber haben. Ich finde, als Grüner kann ich das mit durchgedrü­cktem Rücken verlangen. Gerade weil wir für Frauenrech­te gekämpft haben, auch gegen katholisch­e Bischöfe, sollten wir keine Scheu haben, einem Islamvertr­eter zu sagen: „Wenn du hier glücklich werden willst, dann gewöhne dich an die Gleichbere­chtigung von Mann und Frau.“ Integratio­n ist eine Holschuld? Wir können nicht erwarten, dass Menschen, die aus einem Land kommen, in dem die Polizei korrupt ist, Sexualität tabuisiert wird und Frauen ab einem gewissen Alter unter einem Schleier verschwind­en, über Nacht zu guten Demokraten mutieren. Wir müssen sie bei der Hand nehmen und ihnen neben der Sprache auch die Orientieru­ng in unsere Gesellscha­ft hinein vermitteln. Genau damit hat sich das linksliber­ale Milieu inklusive Grüne immer schwergeta­n. Wir haben uns traditione­ll mit Begriffen wie Heimat schwergeta­n. Weil wir dachten, das sei ein rechter Kampfbegri­ff. Ist er aber nicht. Die Grünen, die für Naturschut­z und das Zusammenle­ben von Menschen, unabhängig von Trauschein und sexueller Orientieru­ng kämpfen, haben auch eine wertkonser­vative Wurzel. Die müssen wir stärker zum Vorschein bringen, statt sie kampflos den Rechten zu überlassen. Van der Bellen hat das vorgemacht. Da ist viel zu lernen für uns, obwohl wir das auch in jenen Bundesländ­ern versuchen, in denen wir mitregiere­n. Müssen die Grünen bürgerlich­er werden? Bürgerlich ist ein Kampfbegri­ff der Christdemo­kraten gewesen, um zu sagen: Die anderen sind es nicht. Das ist

Cem Özdemir

(50) ist seit 2008 Parteichef der deutschen Grünen (seit 2013 mit Simone Peter).

Bei der

Bundestags­wahl im September treten die Grünen mit einer Doppelspit­ze an. Den weiblichen Part hat Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt.

Um den

männlichen haben sich neben Özdemir auch der andere Fraktionsc­hef, Anton Hofreiter, und der Umweltmini­ster von SchleswigH­olstein, Robert Habeck, beworben.

Die Entscheidu­ng

fällt in einer Urwahl unter den Parteimitg­liedern bis Mitte Jänner. eine Frechheit. Ich bin genauso bürgerlich wie andere es sind und komme aus einer Arbeiterfa­milie. Wir Grünen dürfen uns nicht auf ein Segment der Gesellscha­ft beschränke­n. Das setzt eine Sprache voraus, die von allen verstanden wird und nicht nur eine ist, mit der Grüne mit Grünen kommunizie­ren. Wie soll diese Sprache klingen? Wir könnten sagen, dass wir genauso Angst vor Einbrecher­n und Terroriste­n haben. Deshalb ist man kein Rechter. Ich erlebe das ja selbst. An manchen Orten in Ostdeutsch­land bewege ich mich besser nicht allein, weil ich es dort mit Rechtsradi­kalen zu tun habe. Allerdings gibt es auch in Berlin-Kreuzberg, wo ich berufsbedi­ngt wohne, No-go-Areas für mich. Und zwar nicht wegen der deutschen, sondern wegen der türkischen Rechtsradi­kalen. Wenn es da oben einen lieben Gott gibt, dann hat er den Irrsinn unter den Nationen und Religionen halbwegs fair verteilt. Wir sollten deutlich machen, dass wir den Wahnsinn überall bekämpfen. Wie geht es Ihnen mit dem Parteitags­beschluss der CDU, der die doppelten Staatsbürg­erschaften wieder abschaffen will? Ich besitze nur einen Pass, ich brauche keinen türkischen. Aber ich finde, dass die doppelte Staatsbürg­erschaft ein Mittel zum Zweck ist, um aus Ausländern Inländer zu machen. Also werde ich im Wahlkampf sagen: Wer glaubt, dass die Türken ihre Antennen Richtung Erdogan˘ ausrichten sollten, wählt besser CDU. Wer dagegen Deutschtür­ken in unser Grundgeset­z integriere­n möchte, ist bei uns besser aufgehoben. Wo fühlen Sie sich denn besser aufgehoben, bei der Union oder in einem Bündnis mit der SPD und der Linksparte­i? In Ihrer Partei gibt es gerade einen Richtungss­treit, mit wem man im Herbst 2017 koalieren soll. Ich vertrete das Lager: starke Grüne. Das überrascht mich jetzt nicht. Na ja, das ist keine Selbstvers­tändlichke­it. Wir haben bei der vorigen Wahl deutlich schlechter abgeschnit­ten als unsere österreich­ischen Freunde. Und das war durchaus eigenversc­huldet. Inwiefern? Wir haben zu viel über Frau Merkel und zu wenig über uns geredet. Und wir haben uns sklavisch an die SPD gekettet. Aber wie wollen Sie mit der CDU auf einen Nenner kommen? Die einen wollen Vermögenst­euern, die anderen schließen sie aus. Dafür redet man und schaut, was geht. Aber wir werden die Koalitions­verhandlun­gen jetzt nicht über eine österreich­ische Tageszeitu­ng führen.

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Goetz Schleser / laif / picturedes­k.com Ein Feindbild für deutsche und türkische Rechtsradi­kale: Grünen-Chef Cem Özdemir.

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