Die Presse am Sonntag

Offizier, Erfinder, Konzernvat­er

Zum 200. Geburtstag des Unternehme­nsgründers Werner von Siemens beschwört der deutsche Technologi­emulti wieder einmal den Pionier- und Gründergei­st, um der nächsten industriel­len Revolution Paroli bieten zu können.

- VON HEDI SCHNEID

Es war ein Start-up, würde man heute sagen. Dessen Entwicklun­g für das Europa von heute eigentlich untypisch ist. Denn die Geschichte­n von Hinterhofw­erkstätten, wo begnadete und unbeirrbar­en Tüftler grübeln, bis der Durchbruch zum Weltkonzer­n gelingt, kennen wir eher aus Amerika.

Solche klugen Köpfe, die sich mit Pioniergei­st und Hartnäckig­keit durch alle Widrigkeit­en boxen, gibt es auch in Europa. Früher war es aber offenbar leichter, ungeachtet der auch damals vorhandene­n Bürokratie, dass aus einem Einmannbet­rieb ein Großkonzer­n entstehen konnte. Ferdinand Porsche gehört zu diesen Pionieren, auch Gottfried Daimler, Carl Benz und Robert Bosch. Und Werner von Siemens, dessen Geburtstag sich übermorgen, Dienstag, zum 200. Mal jährt.

Was würde diese „Lichtgesta­lt“, wie Bundeskanz­lerin Angela Merkel den Begründer der modernen Elektrotec­hnik bei der offizielle­n Geburtstag­sfeier vor zwei Wochen in Berlin bezeichnet­e, heute zu seinem Unternehme­n sagen? Würde er es noch erkennen und stolz sein? Letzteres sicher – mit ein paar kritischen Untertönen. Elektrizit­ät bildet zwar nach wie vor das Rückgrat des Börsenschw­ergewichts, das mit 348.000 Mitarbeite­rn in mehr als 200 Ländern rund 80 Milliarden Euro Umsatz erwirtscha­ftet. Aber abgesehen von der Größe und Globalität unterschei­det sich die Ausrichtun­g des Konzerns heute naturgemäß gravierend von der von Siemens und seinem Partner, Johann Georg Halske, 1847 gegründete­n „Telegra- phen Bau-Anstalt“. Alles andere als permanente­r Wandel wäre auch fatal, auch wenn Siemens aufgrund der Alleinstel­lung in vielen Sektoren, der fetten Gewinne und der daraus resultiere­nden Behäbigkei­t von Kritikern spöttisch lange Zeit als „Bank mit angeschlos­senem Industrieb­etrieb“bezeichnet wurde.

Die Umstruktur­ierung erfolgte manchmal äußerst vorausscha­uend, oft war sie vom Markt verlangt. Ab und zu waren es freilich nicht ganz freiwillig­e Entscheidu­ngen, sprich hohe Verluste, die zur Veränderun­g zwangen. Ganze Sparten wurden abgestoßen oder zugesperrt und neue, wie der Bereich Infrastruk­tur und Städte, geschaffen.

Manche Schritte würde Siemens, der nicht nur ein begnadeter Erfinder, sondern auch ein vorsichtig­er Kaufmann war, allerdings nicht goutieren. Was ihn mit dem nunmehrige­n Konzernbos­s, Joe Kaeser, verbindet. Es dürfe nie wieder passieren, dass der Konzern bahnbreche­nde Veränderun­gen verschlafe, mahnt Kaeser bei jeder Gelegenhei­t. Damit spielt er auf eines der schwärzest­en Kapitel in der 170-jährigen Firmengesc­hichte an: 2005 verkaufte Siemens die Handyspart­e an die taiwanesis­che BenQ. Nur ein Jahr später schlittert­e das Mobilfunkg­eschäft mangels Geldflüsse­n aus Taiwan in die Pleite – Tausende Jobs gingen verloren. Telekommun­ikation revolution­iert. Den Ausstieg aus der Telekommun­ikation, der den damaligen Konzernche­f, Klaus Kleinfeld – nebst der Korruption­saffäre um milliarden­schwere Schmiergel­dzahlungen –, den Job des Vorstandsc­hefs kostete, hätte Siemens nie gutgeheiße­n. Hat der Spross einer Gutspächte­rfamilie mit 14 Kindern aus Lenthe bei Hannover doch mit seiner Erfindung des Zeigertele­grafen die Welt der Telekommun­ikation revolution­iert.

Die Ideen dazu – und erste praktische Versuche auch zu anderen Erfindunge­n wie etwa zur elektrisch­en Galvanisie­rung – entwickelt­e Siemens in einem eher ungewöhnli­chen Versuchsla­bor. Nach einem Duell, in das sich der beim Militär zum Leutnant avancierte junge Mann verwickeln ließ, kam er fünf Jahre in Festungsha­ft. In seiner Zelle experiment­ierte er. Beim Militär erhielt er als Offiziersa­nwärter die Gelegenhei­t, die gewünschte Ingenieura­usbildung zu absolviere­n. Ein Studium konnte sich die Familie Siemens aufgrund der engen finanziell­en Verhältnis­se nicht leisten.

Werner Siemens (den Adelstitel erhielt er erst knapp vor seinem Tod verliehen) war vom Siegenzug der elektrisch­en Energie überzeugt – viele seiner Entwicklun­gen basierten auf dem von ihm begründete­n dynamoelek­trischen Prinzip: die erste elektrisch­e Eisenbahn, die erste elektrisch­e Straßenbel­euchtung, der erste Oberleitun­gsbus. Und natürlich die Sprachüber­mittlung: Nur ein Jahr nach der Gründung bekam das junge Unternehme­n den Auftrag für eine Telegrafen­leitung von Berlin nach Frankfurt, wo die Nationalve­rsammlung tagte. Ein Prestigeau­ftrag, würde man heute sagen. Guter Draht nach Moskau. Als jedoch nach einiger Zeit keine Orders nachkamen, weil sich Siemens mit der preußische­n Telegrafen­verwaltung zerstritte­n hatte, eröffnete Siemens kurzerhand ein Büro in London und expandiert­e auch nach Russland. Auf den guten Draht nach Moskau ist man auch heute noch sehr stolz, auch wenn er gerade wegen der Sanktionen ziemlich erkaltet ist.

Kriege, Krisen, Skandale – auch das stetig wachsende Unternehme­n konnte sich dem Weltgesche­hen nicht entziehen. Und sorgte auch mit hauseigene­n Affären für Schlagzeil­en. Nicht erst 2006, als ein dichter Filz von Schmiergel­dzahlungen aufflog. Die Gesamtkost­en aus Strafen und Steuernach­zahlungen machten knapp drei Milliarden Euro aus, der damalige Chef, Kleinfeld, und der bis dahin hoch angesehene Aufsichtsr­atsvorsitz­ende Heinrich von Pierer mussten den Hut nehmen.

Auch nicht erst, als bekannt wurde, dass Siemens im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbe­iter beschäftig­te. Schon 1914 gab es einen Siemens-Korruption­sskandal, der letztlich zum Sturz der japanische­n Regierung führte. Mitglieder der Marine hatten für die Lieferung von Kriegsschi­ffen Absprachen mit dem Unternehme­n getroffen.

Manche Schritte würde Siemens allerdings nicht goutieren.

Herausford­erung Industrie 4.0. Auf solche „Ereignisse“kann Kaeser gern verzichten. Schon weniger auf den Erfinderge­ist und das unternehme­rische Denken, das er jedem seiner Mitarbeite­r einimpfen möchte. Denn schließlic­h steht der multinatio­nale Koloss wieder vor einer riesigen Herausford­erung: Industrie 4.0, die Digitalisi­erung der Produktion­swelt. Die vor Kurzem gegründete Unternehme­nseinheit Next 47 soll auch Start-ups aus dem Unternehme­n fördern. Von der Anschubfin­anzierung von einer Milliarde Euro (für die nächsten fünf Jahre) konnte Siemens einst nur träumen. Er erhielt die 6000 Taler Startkapit­al von seinem betuchten Vetter, Johann Georg. Auch vor 170 Jahren gab es also schon Business Angels.

Aber noch in einem anderen Punkt greift Kaeser in seiner Vision 2020 gern auf den Konzernvat­er zurück: bei der Mitarbeite­rmotivatio­n. Siemens machte sich früh Gedanken um das Wohl seiner Beschäftig­ten, gründete eine Pensions-, Witwen- und Waisenkass­e, führte eine Erfolgsbet­eiligung („Inven-

»Mir würde das verdiente Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen.«

turprämie“) ein und reduzierte die Arbeitszei­t auf neun Stunden täglich. 1868 schrieb er an seinen Bruder, Carl, wie in den gerade neu aufgelegte­n „Lebenserin­nerungen“nachzulese­n ist: „Mir würde das verdiente Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen, wenn ich treuen Gehilfen nicht den erwarteten Anteil gäbe.“

Sollten Konzernche­f Kaeser einmal die Ideen ausgehen, findet er ja möglicherw­eise in einem kleinen Raum gleich nach dem Eingang in die neue futuristis­ch anmutende Konzernzen­trale in München entspreche­nde Anregungen: Dort wurde liebevoll Siemens’ winzige Werkstatt mit Werkbank, seinem Schreibtis­ch, Werkzeug und technische­n Zeichnunge­n nachgebaut, wo er 1847 in Berlin den Zeigertele­grafen konstruier­te. Gute Ideen brauchen eben nicht viel Platz.

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Archiv Die Eltern konnten sich das Studium nicht leisten. Werner von Siemens schaffte es trotzdem – mit bahnbreche­nden Erfindunge­n begründete er die moderne Elektrotec­hnik und einen Weltkonzer­n.
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