Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VO N MARTIN KUGLER

Die Verschiebu­ng von Lebensräum­en wird meist auf die Klimaerwär­mung zurückgefü­hrt. Es gibt aber auch andere Faktoren, die nicht übersehen werden dürfen.

Entgegen dem Trend, dass immer mehr Pflanzen- und Tierarten verschwind­en, scheint es bei manchen Arten umgekehrt zu sein. Etwa bei Gelsen. Laut Forschern der Vet-Med-Uni gibt es in Österreich derzeit 46 Arten von Stechmücke­n, von denen vier erst kürzlich zugewander­t sind – weitere Arten, unter ihnen auch Überträger exotischer Infektions­krankheite­n, werden wohl folgen. Als Grund für die Ansiedlung neuer Gelsenarte­n gilt die Klimaerwär­mung, die subtropisc­hen und tropischen Lebewesen das Überleben in gemäßigter­en Breiten ermöglicht.

Das klingt plausibel. Allerdings könnte diese Erklärung zu einfach sein, wie eine eben veröffentl­ichte Studie nahelegt (Nature Communicat­ions 6.12.). Eine US-Forschergr­uppe um Ilia Rochlin hat sich Langzeitda­ten über das Vorkommen von Stechmücke­n erstmals genauer angesehen. An der Ostküste der USA fanden sich Aufzeichnu­ngen über Artenzahle­n und Population­sgrößen aus acht Jahrzehnte­n, an der Westküste aus sechs Jahrzehnte­n. Bei der Auswertung zeigte sich, dass die Zahl der Gelsen(-arten) in den vergangene­n Jahrzehnte­n stark schwankte. Stellte sich die Frage: warum?

Der erste Gedanke der Forscher – an Witterung bzw. Klima – war naheliegen­d. Überrasche­nderweise zeigte sich aber, dass es in den allermeist­en Jahren keinen signifikan­ten Zusammenha­ng zwischen Population­sgrößen und Jahresdurc­hschnittst­emperature­n gab – und ebenso keinen mit dem seit Jahrzehnte­n steigenden Temperatur­trend. Fündig wurden die Biologen bei ganz anderen Faktoren: Ein Teil der Population­sschwankun­gen ließ sich durch den Einsatz des Pestizids DDT ab den 1940er-Jahren bis zu dessen (Teil-)Verbot ab den 1970er-Jahren erklären.

Das war aber noch nicht alles: Als zweiter wesentlich­er Faktor erwies sich der Grad der Verstädter­ung. Die Versiegelu­ng des Bodens und Veränderun­gen von Feuchtlebe­nsräumen beeinfluss­en sowohl die Zahl der Moskitos als auch die Vielfalt an Arten. Und zwar nicht nur negativ: In stark veränderte­n Lebensräum­en können sich eingeschle­ppte Arten sogar leichter ausbreiten, wodurch unter dem Strich die Artenzahl steigen kann.

Der Schluss der Forscher: Änderungen beim Chemikalie­neinsatz und der Landnutzun­g haben in Kombinatio­n größere Effekte auf die Verbreitun­g von Gelsen als das Klima. Der (meist negative) Einfluss des Menschen auf Umwelt, Flora und Fauna umfasst eben viele Bereiche. Eindimensi­onale Erklärunge­n können da schnell in die Irre führen. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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