Wort der Woche
BEGRIFFE DER WISSENSCHAFT
Die Verschiebung von Lebensräumen wird meist auf die Klimaerwärmung zurückgeführt. Es gibt aber auch andere Faktoren, die nicht übersehen werden dürfen.
Entgegen dem Trend, dass immer mehr Pflanzen- und Tierarten verschwinden, scheint es bei manchen Arten umgekehrt zu sein. Etwa bei Gelsen. Laut Forschern der Vet-Med-Uni gibt es in Österreich derzeit 46 Arten von Stechmücken, von denen vier erst kürzlich zugewandert sind – weitere Arten, unter ihnen auch Überträger exotischer Infektionskrankheiten, werden wohl folgen. Als Grund für die Ansiedlung neuer Gelsenarten gilt die Klimaerwärmung, die subtropischen und tropischen Lebewesen das Überleben in gemäßigteren Breiten ermöglicht.
Das klingt plausibel. Allerdings könnte diese Erklärung zu einfach sein, wie eine eben veröffentlichte Studie nahelegt (Nature Communications 6.12.). Eine US-Forschergruppe um Ilia Rochlin hat sich Langzeitdaten über das Vorkommen von Stechmücken erstmals genauer angesehen. An der Ostküste der USA fanden sich Aufzeichnungen über Artenzahlen und Populationsgrößen aus acht Jahrzehnten, an der Westküste aus sechs Jahrzehnten. Bei der Auswertung zeigte sich, dass die Zahl der Gelsen(-arten) in den vergangenen Jahrzehnten stark schwankte. Stellte sich die Frage: warum?
Der erste Gedanke der Forscher – an Witterung bzw. Klima – war naheliegend. Überraschenderweise zeigte sich aber, dass es in den allermeisten Jahren keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Populationsgrößen und Jahresdurchschnittstemperaturen gab – und ebenso keinen mit dem seit Jahrzehnten steigenden Temperaturtrend. Fündig wurden die Biologen bei ganz anderen Faktoren: Ein Teil der Populationsschwankungen ließ sich durch den Einsatz des Pestizids DDT ab den 1940er-Jahren bis zu dessen (Teil-)Verbot ab den 1970er-Jahren erklären.
Das war aber noch nicht alles: Als zweiter wesentlicher Faktor erwies sich der Grad der Verstädterung. Die Versiegelung des Bodens und Veränderungen von Feuchtlebensräumen beeinflussen sowohl die Zahl der Moskitos als auch die Vielfalt an Arten. Und zwar nicht nur negativ: In stark veränderten Lebensräumen können sich eingeschleppte Arten sogar leichter ausbreiten, wodurch unter dem Strich die Artenzahl steigen kann.
Der Schluss der Forscher: Änderungen beim Chemikalieneinsatz und der Landnutzung haben in Kombination größere Effekte auf die Verbreitung von Gelsen als das Klima. Der (meist negative) Einfluss des Menschen auf Umwelt, Flora und Fauna umfasst eben viele Bereiche. Eindimensionale Erklärungen können da schnell in die Irre führen. Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.