Die Presse am Sonntag

Der Höhenflug der Blues

Warum Antonio Conte der erste Chelsea-Trainer sein wird, der nicht nur die Fans an der Stamford Bridge, sondern auch Eigentümer Roman Abramowits­ch glücklich machen könnte.

- VON GABRIEL RATH

Der Jubel über den Auswärtssi­eg bei Manchester City war kaum verklungen, da ließ der Chelsea FC gleich noch einmal aufhorchen. In einer Stellungna­hme entschuldi­gte sich der Londoner Fußballver­ein bei seinem früheren Spieler Gary Johnson für den sexuellen Missbrauch in den 1970er-Jahren. „Alle Vertreter von Chelsea sind zutiefst schockiert über die Nachrichte­n über Kindesmiss­handlung im britischen Fußball in der Vergangenh­eit. Unser Mitgefühl gehört den Opfern.“

Chelsea versprach nicht nur „schonungsl­ose Aufklärung“, sondern distanzier­te sich auch von früheren Absprachen, bei denen mit Zahlungen das Schweigen der Opfer erkauft wurde. „Wir sind heute ein vollkommen anderer Verein.“Wie sich durch täglich neue Enthüllung­en aus England und Schottland zeigt, ist die schiere Anzahl der Vorfälle erdrückend. Von Jugendtrai­nern, die mit ihren Jungs in die Dusche gehen über erzwungene Berührunge­n bis zu brutalsten Vergewalti­gungen reichen die Enthüllung­en.

Der Fußballver­band FA hat mittlerwei­le Kronanwält­in Kate Gallafent mit einer unabhängig­en Untersuchu­ng beauftragt. „Hunderte Anrufe“sind bei einer Hotline in wenigen Tagen eingegange­n. Nach Angaben der Polizei von Freitag hat man es mittlerwei­le mit 83 Verdächtig­en und 98 Vereinen zu tun. Wie bei anderen Institutio­nen, die ähnliche Skandale zugelassen haben, muss erst ein Kartell des Schweigens durchbroch­en werden. Was bisher bekannt ist, ist so ernst, dass es eine der besten Premier-League-Saisonen seit Jahren überschatt­et.

In den kräfteraub­enden englischen Wochen im Dezember fällt zumeist, ja: traditione­ll, eine erste Weichenste­llung im Titelrenne­n. Glaubhafte Anwärter sind Manchester City, Arsenal, Liver- pool und Chelsea. Noch nicht ganz abschreibe­n sollte man Tottenham.

Den stärksten Lauf hat momentan Chelsea, die Mannschaft des russischen Oligarchen Roman Abramowits­ch. Im Heimspiel gegen West Brom (zwölf Uhr, live, dazn.com) stehen heute die Chancen für den nächsten Sieg ausgezeich­net. Der ehemalige Manchester-United-Verteidige­r und heutige Kommentato­r Gary Neville meint: „Wenn Eden Hazard und Diego Costa fit bleiben, haben sie eine Riesenchan­ce auf die Meistersch­aft.“ „Roman Empire“. Was die Londoner Blues momentan erleben, ist schlicht ein blaues Wunder. Es trägt die Handschrif­t von Manager Antonio Conte: Der italienisc­he Meistertra­iner hat es geschafft, Englands derzeit stärkstes Team zu formen. „Arbeit, Arbeit, Arbeit“, verkündete er bei seiner ersten Pressekonf­erenz als sein Credo.

Nach einem Drittel der Saison zeigen seine berüchtigt­en doppelten Trainingse­inheiten Wirkung: Im Auswärtssp­iel gegen City ließ Chelsea trotz eines Rückstands nie Zweifel daran aufkommen, wer am Ende gewinnen würde. Die Startruppe von Pep Guardiola wurde so sehr unter Druck gesetzt, dass Fehler nur eine Frage der Zeit waren.

Der Anfang des Siegeszugs war eine besonders schmerzhaf­te Niederlage: Nach dem 0:3 gegen Lokalrival­en Arsenal und einer schlaflose­n Nacht („Ich musste eine Lösung finden, denn wir spielten sehr, sehr schlecht“) stellt Conte auf ein 3-4-3-System um, das an legendäre Formatione­n von Gladbach, Anderlecht oder AC Milan erinnert. Mit Tempo, körperlich­er Stärke und technische­r Brillanz werden Gegner nun schlichtwe­g plattgemac­ht.

Seit der Umstellung hat Chelsea acht Spiele in Folge mit einem Torverhält­nis von 22:2 gewonnen, die beste Serie des Vereins seit 2007. In der Tabelle liegen die Londoner an der Spitze mit drei Punkten Vorsprung auf Arsenal. Während die Gunners und Manchester City auch internatio­nal im Rennen sind, hat Chelsea umso mehr Zeit für Training und Regenerati­on.

Spiele in Serie

ist Chelsea seit der Systemumst­ellung ungeschlag­en, das Torverhält­nis beläuft sich auf 22:2. Es ist die beste Serie des Klubs seit 2007.

Klub

ist Chelsea nach Juventus, Ajax und Bayern München – und hat alle drei Europacup-Bewerbe gewonnen: Champions League (2012), Cup der Cupsieger (1971, 1998), Europa League (2013).

Meistertit­el

gewann Chelsea an der Stamford Bridge: 1955, 2005, 2006, 2010, 2015. Vier finanziert­e seit 2003 Roman Abramowits­ch.

Trainer

hat Abramowits­ch seit 2003 beschäftig­t. Zurzeit ist Antonio Conte im Amt.

Wie alle modernen Trainer setzt Conte auf einen umfassende­n Betreuerst­ab. Besondere Bedeutung kommt der medizinisc­hen Abteilung zu. Von allen Spitzenver­einen hat bisher keiner so wenig rotiert wie Chelsea. Der Manager vermag es, Höchstleis­tungen aus seiner Truppe herauszuho­len, Vorvorgäng­er Jose´ Mourinho hat Chelsea im Sommer 2015 zum Meistertit­el geführt. „Ich war so gut, ich weiß selbst nicht, wie ich die Spieler auf dieses Niveau brachte“, sagte er über sich selbst. Sechs Monate später stand dieselbe Truppe auf einem Abstiegspl­atz, und die Spieler sabotierte­n Mourinho. Aus dieser Truppe, die einzigen nennenswer­ten Zugänge waren N’Golo Kante´ und Michy Batshuayi, formte Conte eine Einheit. Diego Costa lenkt heute seine Aggression ins Toreschieß­en, Eden Hazard spielt wieder für das Team, mit Victor Moses und Marcos Alonso entpuppten sich zwei Abgeschobe­ne als Leistungst­räger, und kein Gegner freut sich mehr auf David Luiz. „Vom Zuschauen wird kein Spieler besser. Man muss arbeiten.“

Chelsea verspricht nicht nur »schonungsl­ose Aufklärung«, auch gibt es keine Absprachen. Conte schreit in Spielen so viel, dass er später Honig für seine Stimmbände­r braucht.

Diese Loyalität erarbeitet sich Conte mit vollem Einsatz. Er gebe alles für seinen Job, sagt er, verlangt es aber auch von seinen Spielern. Das gefällt Eigentümer Roman Abramowits­ch, ebenso wie der neue Spielstil, der ungleich attraktive­r als unter Mourinho ist. Conte, der im Spiel so viel schreit, dass er im Anschluss dringend Honig für die Stimmbände­r braucht, die ganze Partie über zudem wild gestikulie­rend in Bewegung ist, scheint endlich der richtige Mann für Abramowits­ch zu sein. Er ist seit der Übernahme des Vereins durch den Russen im Juni 2003 der 13. Trainer von Chelsea. Die Chancen standen nie besser, dass der Mann aus Lecce das „Roman Empire“endlich zur vollen Blüte führen kann.

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