»Das Schlimmste ist das Mitleid der anderen«
Mit der Diagnose fängt es erst an: Wie verändert sich das Leben, wenn das eigene Kind behindert ist? Drei Eltern erzählen, wie sie daran gewachsen sind, wie schwierig es noch immer ist. Und warum Interesse wichtig und aufdringliche Fragen vernichtend sind
Es sollte eine reine Routineuntersuchung sein. Damals im Mai 2004. Es ist das erste Kind für Katharina und Clemens Rauhs. Sie 30, er 28. Frisch verheiratet. Das Kind ist das Sahnehäubchen im Leben zweier aufstrebender Menschen. „Man geht ja zu solchen Untersuchungen wie zu einem Fitnesscheck“, sagt Clemens Rauhs. Niemand hätte ihn emotional darauf vorbereitet, was bei so einem Termin passieren kann.
Wenige Termine später legt ihnen der Arzt einen Wikipedia-Eintrag auf den Tisch: „Balkenagenesie“. Eine fehlende Verbindung zwischen linker und rechter Gehirnhälfte. Der Verlauf der Krankheit? Nicht prognostizierbar. Zwischen gar keiner Beeinträchtigung und totaler. Der Arzt schlägt vor, die Ethikkommission anzurufen: Abtreibung? Katharina Rauhs ist im fünften Monat schwanger. Das sei der Moment gewesen, in dem sie den Boden unter den Füßen verloren hätte. „Man fällt in ein tiefes Loch.“Sie wird acht Jahre brauchen, um wieder herauszufinden.
Jährlich wird ein Bruchteil der rund 84.000 Babys in Österreich (Zahl aus 2015) mit Behinderungen geboren, eine Statistik darüber gibt es nicht. Wer über das Leben mit behinderten Kindern liest, hat meistens eine Botschaft im Kopf: Es ist nicht so schlimm, und auch mit behindertem Kind lässt es sich zufrieden leben. Was dabei oft vergessen wird: Bis sich die Familie auf die neue Situation einstellt, dauert es. Auch weil der Umgang mit behinderten Kindern in Österreich noch längst nicht so selbstverständlich ist, wie viele gern glauben möchten.
Johannes kommt per Kaiserschnitt zur Welt. „Bei der Geburt“, sagt sein Vater, sei die Hoffnung noch sehr groß gewesen, dass das Kind doch nichts haben könnte. Seine Frau weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. „Ich konnte es niemandem erzählen, weil ich selbst damit nicht umgehen konnte“, sagt sie. Sie fühlt sich schuldig, weil sie kein gesundes Kind auf die Welt bringen konnte. Im Bekanntenkreis kommen die ersten Fragen, ob man einen genetischen Defekt in der Familie habe.
Die eigene Schwester reißt Katharina Rauhs schließlich aus ihrer Starre. „Du kannst nicht so tun, als wäre nichts. Es ist zu offensichtlich“, sagt sie. Da ist der kleine Johannes bereits ein paar Monate alt. Es ist der Anstoß, den Katharina Rauhs braucht. Die Eltern suchen Therapeuten für den Buben, sie selbst holt sich psychologische Unterstützung, geht in Shiatsu. Heute sitzt eine gut aussehende Frau vor einem. Die Lippen rot, das Lächeln breit, die blondierten Haare trägt sie lässig hinter die Ohren geklemmt. Und doch bricht immer wieder ihre Stimme, wenn sie von der schwierigen Anfangszeit erzählt. So viele Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben, so viele Verletzungen, die einem bewusst oder unbewusst zugefügt wurden.
Die Rauhs haben einen großen Bekanntenkreis, aber ihr Umfeld kann nur schlecht mit der Geburt von Johannes umgehen. Während die einen sehr offen und hilfsbereit sind, wenden sich viele andere ab. Zu Treffen mit anderen Jungmüttern wird sie vielleicht fünfmal eingeladen. „Das war irrsinnig kränkend.“
Nach einem Jahr kann ihr Sohn nicht einmal robben. „Er hat eine Muskeltonusschwäche, das heißt, er hat auch irrsinnig geschlatzt“, sagt sie. Ein herziges Baby, aber nicht recht appetitlich. Vermutlich habe das andere Mütter abgestoßen. „Ich glaube, es war nicht mit Absicht, sondern aus Bequemlichkeit, sich nicht mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen.“Wehgetan hätte es trotzdem. Es gibt einen Satz, den man von Müttern mit behinderten Kindern oft hört: Man stehe am Rand und sehe den anderen zu. Starren und stören. Auch in der Öffentlichkeit gibt es schiefe Blicke. Die kleine Familie beginnt, sich zurückzuziehen. Fährt nicht mehr ins Hotel, sondern mietet einen Zweitwohnsitz in einem Tiroler Dorf. Er ist bis heute ein wichtiger Rückzugsort für sie.
Das Schlimmste, sagen die Rauhs, sei das Mitleid der anderen. Wenn man von der eigenen Situation erzählt und der Gesprächspartner verfällt. „Diese schreckensgeweiteten Augen. Man fühlt sich so klein“, sagt Katharina Rauhs. Und: „Ich habe mir immer gewünscht, dass mich jemand um mein Baby beneidet.“Es ist nie passiert.
Johannes wächst und ist doch um Jahre hinten. Mit drei Jahren beginnt er zu sprechen, trotz intensiver Förderung erst mit fünf Jahren zu gehen. Seine intellektuelle Behinderung macht sich bemerkbar. „Natürlich hofft man immer, dass es das Kind schafft“, sagt Clemens Rauhs. Umso schmerzhafter sei es zu sehen, wenn dem nicht so ist. Eine Therapeutin sagt, dass der Junge womöglich nie wird sitzen können. „Man hat natürlich sofort die Bilder im Kopf“, sagt seine Frau. Von einem erwachsenen Mann, der bewegungslos im Wohnzimmer liegt. Diese Bilder bekäme man Jahre nicht aus dem Kopf. Mittlerweile kann der Bub laufen, Laufrad fahren, Ski fahren, schwimmen. Er malt und töpfert mit Leidenschaft. Auch weil Johannes bestens betreut wird. Die Rauhs haben Geld. Er hat eine Betreuerin, die ihn künstlerisch fördert, er geht in eine gute Schule, er hat einen Trainer, der mit ihm Sport macht, während die Eltern arbeiten.
Dass die Mutter nicht quasi als Therapeutin für das Kind daheimgeblieben sei, hätte immer wieder von außen für Kritik gesorgt. Katharina Rauhs hält jedoch genau das für wichtig: sich selbst nicht aus dem Blick zu verlieren. „Man ist es sich und dem Kind schuldig, dass es einem selbst halbwegs gut geht.“
Zu Treffen mit anderen Jungmüttern wird Rauhs vielleicht fünfmal eingeladen.
Arbeit als Normalität. Auch für Doris Ruprecht ist ihre Arbeit als Apothekerin jener Teil ihres Lebens, in dem sie ihre sozialen Kontakte pflegt. Die 40-Jährige ist alleinerziehend. Ihr Sohn Sebastian ist sieben Jahre alt und hat das Angelman-Syndrom. Er kann nicht reden, kaum gehen und lernt erst jetzt, ohne Windel durch den Tag zu kommen.
Hinzu kommen Epilepsie und Schlafstörungen. Auch sie wird in der Straßenbahn angestarrt, wildfremde Menschen fragen: „Haben Sie das nicht vor der Geburt gewusst?“Meist seien es ältere Wiener. „Und es sind nie Ausländer, die sind immer voller Empathie“, fügt sie hinzu. Von der Öffentlichkeit wünscht sie sich „Kein Mitleid, sondern Verständnis. Es ist nicht alles schlecht, was anders ist.“
Die zierliche Frau mit den braunen Haaren stellt einen Kuchen auf den Tisch, in das Zimmer ihres Sohnes