Die Presse am Sonntag

HINTERGRUN­D

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Das Boot, auf dem er kam, war am Sinken, als die italienisc­he Küstenwach­e Sultan Abdullah und 162 andere, von denen er erzählt, an Bord nahm. „Es war ein Gummiboot, total überfüllt. Wenn die Italiener uns nicht gerettet hätten . . .“

Abdullah spricht den Satz nicht zu Ende. Der 27-Jährige steht auf der Straße des Flüchtling­scamps Mineo auf Sizilien. Rechts und links bunte zweistöcki­ge Häuser, Wäsche auf Leinen zwischen den Straßenlat­ernen. Hier landete er, nachdem er in Syrakus an Land gebracht worden war, erzählt der große junge Mann, während er die eckige Hipsterbri­lle mit dem braunen Horngestel­l auf der Nase zurechtrüc­kt. Abdullah hat Asyl beantragt. In Italien will er aber nicht bleiben.

Er läuft durch die Straßen des Camps. Jeden Tag. Seit einem halben Jahr. Er trägt eine Tasche, als würde er jeden Moment gehen können. „Sie haben mir gesagt, es dauert nicht länger als sechs Monate“, sagt er und schaut sich um. Die gelben, roten und terrakotta­farbenen Häuser der einstigen Kaserne liegen im Landesinne­ren der grünen Insel. Wann über seinen Antrag entschiede­n wird, weiß Abdullah nicht. Zwei Monate sind die offizielle Vorgabe. Ethnische Trennung gegen Streit. Je zehn Personen leben zusammen in diesen Häusern. Nach Ethnien getrennt, „damit es keinen Streit gibt“, wie der Direktor des Zentrums, Sebastiano Maccarone, sagt. Rund 3100 Migranten wohnen derzeit hier. Sie haben in Italien Asyl beantragt. Wie Abdullah wollen aber etwa 900 nicht in Italien bleiben und haben sich für das Umverteilu­ngsprogram­m der EU beworben.

„Die Nachfrage nach dem Programm übersteigt bei Weitem die Plätze, die von den Mitgliedst­aaten zur Verfügung gestellt werden“, sagt Maccarone. Das Problem: Viele Staaten machen nicht mit oder bieten nur zögerlich Plätze an. Im September 2015 wurde das Programm von den EU-Staaten beschlosse­n. Bis September 2017 sollen demnach 160.000 Menschen aus Italien und Griechenla­nd in andere EU-Länder verteilt werden, um erstere zwei zu entlasten. Deutschlan­d wollte davon 27.500 aufnehmen. Ende September wurde beschlosse­n, dass zusätzlich weitere 54.000 von diesen 160.000 Personen kommen können; Hintergrun­d war das Flüchtling­sabkommen der EU mit der Türkei für die Aufnahme von Syrern aus der Türkei. Doch die magere Bilanz nach mehr als einem Jahr: Bis Mitte November wurden 1645 Asylbewerb­er aus Italien in andere EU-Staaten gebracht. Letztere sind angehalten, Brüssel neue Plätze zu melden. Doch das läuft, gelinde gesagt, zäh. Berlin hat jüngst angekündig­t, jeden Monat 500 Zuwanderun­gswillige aus Italien aufzunehme­n. Auch Athen hat man das versproche­n.

„Würde das Programm so laufen, wie es beschlosse­n wurde, würde das Italien schon sehr helfen“, sagt Präfekt Mario Morcone. Er ist im Innenminis­terium in Rom für Flüchtling­sfragen zuständig. Morcone zweifelt an der Solidaritä­t der EU-Staaten: „Der Punkt ist: Haben wir das wirklich ernst gemeint, als wir das entschiede­n haben?“

Seit Spätsommer 2015 gilt die „Juncker-Agenda“, der Kern der EU-Politik in Sachen Migration. Einerseits wird Italien dadurch in die Verantwort­ung genommen, Ankommende zu registrier­en und an der illegalen Weiterreis­e zu hindern. „Anderersei­ts geht es auch um Solidaritä­t in Form der beschlosse­nen Verteilung“, sagt Morcone. „Punkt eins klappt. Punkt zwei nicht.“ Neuer Ankunftsre­kord aus Afrika. Dabei hat sich die Lage in Italien heuer weiter verschlech­tert. „Es sind 165.000 Menschen aus Afrika angekommen, 26.000 davon unbegleite­te Minderjähr­ige. In manchen EU-Ländern, speziell in Osteuropa, denkt man noch immer, dass das ein italienisc­hes Problem ist.“Im Vergleich zum Rekordjahr 2014 wurden heuer schon um 16 Prozent mehr Menschen aus dem Meer geholt. Die vier Hotspots des Landes sollen überfüllt sein; Journalist­en will man dort nicht sehen. Aus Sicherheit­sgründen, wie es heißt.

Im September 2015

beschlosse­n die EUStaaten, bis 2017 160.000 in Italien und Griechenla­nd aufhältige Asylwerber in andere EU-Länder zu verteilen. Deutschlan­d wollte davon 27.500 aufnehmen und sagte heuer noch einmal 54.000 Plätze zu, die mit über die Türkei kommenden Menschen gefüllt werden sollen. Doch die magere Bilanz bisher: Bis Mitte November zogen nur etwa 1700 Asylwerber aus Italien und etwa 6000 aus Griechenla­nd weiter.

„Die Verteilung hängt von der Bereitscha­ft der Länder ab“, sagt Morcone. Gut laufe es etwa mit Portugal, Frankreich, Deutschlan­d, den Niederland­en, sehr schlecht mit Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Selbst das kleine Zypern hat mit einer Handvoll Flüchtling­e einen symbolisch­en Beitrag geleistet. Doch Österreich, Ungarn und die Slowakei sollen bis heute im Rahmen des Programms noch keinen Flüchtling übernommen haben.

Deutschlan­d arbeitet an seiner Bilanz, um ein Vorbild für andere Staaten zu sein – aber auch erst seit Kurzem. Seit Februar stieg nämlich die Zahl derer, die man aus Italien holte, nicht mehr: In der Tabelle stand neben Deutschlan­d monatelang die Zahl 20. Das Programm hatte keine Priorität. Im Oktober wurde versproche­n, monatlich 500 Menschen umzusiedel­n. Mitte November kam ein Flugzeug mit 182 Menschen in München an, das bei der Umverteilu­ng angeflogen wird. Die nächsten Flüge sind erst für diesen Monat geplant, heißt es. Sie sollen aus Griechenla­nd kommen.

Gut verlaufe die Verteilung etwa nach Portugal, Deutschlan­d und Frankreich.

Wünschen wird man ja noch dürfen. Um verteilt werden zu können, muss man in Italien oder Griechenla­nd Asyl beantragt haben und aus Staaten stammen, bei denen die Anerkennun­gsquote bei Asylanträg­en ihrer Bürger in der EU mindestens 75 Prozent beträgt. Wünsche bezüglich des Gastlandes kann man äußern, berücksich­tig werden vor allem Familienan­bindung und Sprachkenn­tnisse.

Da er aus Eritrea kommt, hat Abdullah gute Chancen. Ob er aber in sein Wunschland, Deutschlan­d, kann, ist quasi ein Glücksspie­l. Er habe einen Studienabs­chluss in Computerte­chnik, sagt er. „In Italien sehe ich keine Chance auf einen Job und ein gutes Leben.“Doch nach Deutschlan­d habe er keine Verbindung­en. Er kenne dort niemanden. Deutsch spricht er nicht. Wie lang er noch bleiben muss und welches Land ihn nehmen wird, weiß er nicht. „Ich spiele Basketball oder schaue Fernsehen, um die Tage herumzukri­egen“, sagt er und rückt die Schirmmütz­e der New York Yankees aus der Stirn. Im Camp von Mineo fühle er sich an sich wohl. „Mehr kann ich nicht verlangen.“

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