Die Presse am Sonntag

Eins, zwei, drei, vier: Im Beat der Zahlen

Niemand konnte einen Song so schön einzählen wie Dee Dee Ramone. Dafür kamen Kraftwerk bis acht, Falco zählte zweisprach­ig, und die wilde Björk sprengte gleich die Ordnung der natürliche­n Zahlen. In einer Jahreszeit, in der Kinder gern bis 24 zählen: Wiss

- VON THOMAS KRAMAR

Zähl bis 20, sagen die Kinder beim Verstecken­spielen dem, der „einschauen“muss. Oder: zähl bis 50. Kaum je muss der zum Suchen Erkorene bis 24 zählen. Doch derzeit, im Advent, zählen viele Kinder bis 24: die Tage des Monats Dezember, bis zur Bescherung.

Eine Woche erleben die Kinder, die schon bis Mitternach­t aufbleiben können, wie die Erwachsene­n in die andere Richtung zählen: von zehn hinunter, im Countdown, die letzten Sekunden des alten Jahres, bis zum Punkt null. Es kommt aufs Gleiche hinaus: Mit dem Zählen vergeht die Zeit. Zugleich gibt das Zählen einen Rhythmus vor. Das wussten die Punks am besten. Das Einzählen. Jetzt hat er ausgezählt: Als Dee Dee Ramone, Bassist der unsterblic­hen Band Ramones, im Juni 2002 an einer Überdosis Heroin gestorben war, lag so manchem alten Punk dieser Satz auf den Lippen. Er war nicht despektier­lich gemeint. Jeder Fan hatte im Kopf, wie Dee Dee Ramone die Songs einzuzähle­n pflegte: Als „one-chew-free-faw“wurde es oft tran- skribiert, und auch die Theoretica­l Girls, die legendäre No-Wave-Band um den später in die sogenannte ernste Musik aufgestieg­enen Komponiste­n Glenn Branca, dachten wohl daran, als sie ihren Titelsong nur mit einer einzigen Textzeile ausstattet­en. Sie lautete, erraten, „One-two-three-four“und wurde erst im dritten Durchgang durch „five-six-seven“ergänzt . . . Das Erzählen. Natürlich, das Einzählen war keine Erfindung des Punk, Streichqua­rtette tun’s genauso wie Jazzcombos, die Beatles pressten ihr Einzählen mehrmals auf Platte – z. B. in „I Saw Her Standing There“und „Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band (Reprise)“– aber die Idee, es als Essenz eines Songs zu sehen, war typisch für die nach Essenzen gierige New-WaveGenera­tion. Wie so vieles brachte Falco, der bei Gott kein Punk war, auch das auf den Punkt, als er 1982 seinen „Kommissar“mit einem doppelten und zweisprach­igen Einzählen begann: Auf die Initiation­sformel „Check it out, Joe“folgt erst ein „Two, three, four“, dann ein „Eins, zwei, drei“, wo- bei der vierte, unbetonte Schlag schon auf eine Silbe des „eigentlich­en“Textes fiel: „Na, es is nix dabei, wenn ich euch erzähl’ die G’schicht . . .“Auch das Erzählen kommt vom Zählen.

Und so geht die Geschichte weiter, das Einzählen aber nicht. Wer einzählt, beginnt die Reihe der natürliche­n Zahlen (ohne die Null), um sie dann jäh abzubreche­n, bei vier, manchmal auch schon bei drei, in vertrackte­ren Taktformen vielleicht bei fünf oder sieben. Dann wiederholt sich die Sache, der Takt läuft. Man hat die natürliche­n Zahlen, die von sich aus in sturer Fortschrit­tlichkeit immer weiter in Richtung Unendlichk­eit laufen würden (ohne diese je zu erreichen), in eine Schleife gebunden, zwingt sie zur Repetition. So hat ein Rhythmus etwas von zyklischer Zeit an sich, wie die Jahreszeit­en, die sich immer wiederhole­n. Das wirre Zählen. Das Erschrecke­nde an den natürliche­n Zahlen ist, dass sie, wenn man sie nicht abbricht (und in eine Schleife biegt), ad libitum weiterlauf­en, dass jede Zahl eine Nachfolger­in hat. In strenger, monotoner Ordnung. Im Song „107 Steps“(auf dem Soundtrack zu „Dancer in the Dark“, 2000) spielt Björk, die isländisch­e Kunstpop-Zauberin, mit der Störung dieser Ordnung: Sie beginnt ganz leise, während das Orchester schon droht, mit 5, 6, 7 usw., wenn sie bei 30 angelangt ist, fängt sie zu singen, mit steigender Ausdrucksk­raft: „31, 35, 38, 42, 48, 51, 54, 58, 64, 68, 69, 75, 79, 83, 86, 89, 23, 100.“Dann versteht man nichts mehr, obwohl man noch Zahlen zu hören meint, jetzt wieder geflüstert. Es macht einen wahnsinnig, und das soll es wohl auch. Haben diese Zahlen ein System? Und wenn ja: Bin ich zu dumm, um es zu verstehen? (Ungeordnet­e Zahlen lassen sich immer als Intelligen­ztest lesen.)

Zur Beruhigung kann man ja „Nummern“von Kraftwerk auflegen. Hier stimmt wieder (fast) alles: Die Computerst­imme zählt bis acht, tritt damit den Computerrh­ythmus los. Dann variiert eine zunächst menschlich­ere, dann stark verzerrte Stimme die Sprache: „One, two. Uno, due, tres, quatro. Ichi, ni, san, chi. Adin, dva, tri.“Auf Finnisch heißen die ersten vier Zahlen übrigens yksi, kaksi, kolme, neljä. die holländisc­he Band Nits hat einmal ein Stück so genannt. Es enthält allerdings keine Worte. Das konsequent­e Zählen. Wir kennen keinen Popdichter, der weiter und weiter gezählt hat. Doch der Maler Roman Opalka begann 1965 mit seinem Lebenswerk „1– Er malte die natürliche­n Zahlen auf Leinwände, mit verblassen­dem Titanweiß, und damit die verrinnend­e Zeit. Als er 2011 starb, war er bis 5607249 gekommen. Gab es für ihn die weiteren Zahlen? Ist die Menge der natürliche­n Zahlen überhaupt wirklich (aktual) unendlich oder nur potenziell unendlich? Das Auszählen. Über die Natur der Menge N grübeln die Menschenki­nder meist erst später im Leben. Früher beginnen sie mit dem Auszählen. Die Beatles bauten in ihrer kindlichen Phase einen Song, „All Together Now“, darauf auf: „One two three four, can I have a little more, five six seven eight nine ten, I love you.“Im selben Jahr, 1967, reimten die Rolling Stones, in einer Variation über Bill Haleys „Rock Around the Clock“: „One o’clock, two o’clock, three o’clock, four o’clock chimes, dandelions don’t care about the time.“Weniger unschuldig hatte Rock ’n’ Roller Eddie Cochran in „Three Steps To Heaven“das Zählen als Klettern auf einer erotischen Leiter interpreti­ert: „Step one: To find a girl to love; Step two: She falls in love with you; Step three: You kiss and hold her tight.“ Das Aufzählen. In jüngerer Zeit hat Bruno Mars das Zählen in die – im Englischen genauso wie im Deutschen existieren­de – Phrase „Auf jemanden zählen“umgedeutet, in „Count On Me“(2010) singt er: „You can count on me like 1, 2, 3, I’ll be there, and I know when I need it, I can count on you like 4, 3, 2, you’ll be there.“

Es gibt eine Menge von Popsongs, die sich an die Reihe der natürliche­n Zahlen anschmiege­n, ein besonders virtuoser ist von den Violent Femmes, diesen Spezialist­en für jungmännli­che Begierde und Verzweiflu­ng. In „Kiss Off“steigert sich Sänger Gordon Gano, getrieben von einem rasenden Country-Punk-Beat, in einem desperaten Crescendo: „I take one, one, one, cause you left me, and two, two, two for my family, and three, three, three for my heartache, and four, four, four for my headache, and five, five, five for my lonely, and six, six, six for my sorrow, and seven, seven for no tomorrow, and

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