Stadt der Weihnacht
Vergessen Sie den Nordpol, vergessen Sie die Werkstatt des Weihnachtsmanns. Die eigentliche Stadt der Weihnacht liegt in China. Nach Bratäpfeln duftet es dort nicht.
Zao Ying hat noch nie Weihnachten gefeiert. Trotzdem blinken um sie herum bunte Lichterketten. Über ihr hängen leuchtende Weihnachtssterne und mit LED-Lichtern animierte Rentiere. Zudem hat sie Stoffnikoläuse in ihrem kleinen Geschäft aufgestellt, ebenso kleine Engel aus Holz, wie sie aus dem Erzgebirge stammen könnten. Adventkalender und Weihnachtspyramiden, Schneekugeln, Nussknacker, sogar Nikolauskostüme, Rentierhörner und Engelflügel hat sie im Sortiment. Ihre diesjährige Lieblingsfigur: ein lächelnder Weihnachtsmann aus Stoff. Wenn man auf seinen dicken Bauch drückt, rattert er „frohe Weihnachten“in fünf unterschiedlichen Sprachen herunter. „Ich kann das jetzt auch“, sagt die 41-Jährige stolz und lacht. „Flohe Uainakten.“Das war aus ihrer Sicht deutsch.
Der Laden von Zao Ying ist nicht das einzige Geschäft, das so weihnachtlich dekoriert ist. Um sie herum ist alles voll von Weihnachtsläden. Auf einer Fläche von rund vier Millionen Quadratmetern stehen in der Futian 2nd X-mas Production Street Tausende Geschäfte und Verkaufsstände, in denen mindestens ebenso viele Händlerinnen und Händler alle nur erdenklichen Weihnachtsartikel verkaufen. Und zwar das ganze Jahr über.
Es duftet allerdings nicht nach Glühwein, gerösteten Mandeln oder Bratäpfeln. Es stinkt nach Chemikalien. Hinter diesem Weihnachtsgroßmarkt erstreckt sich auf einer noch viel größeren Fläche ein Industriegebiet. Mehr als 750 Unternehmen haben ihre Fabrikhallen darauf stehen. Sie stellen rund zwei Drittel aller weltweit verkauften Weihnachtsartikel her. Das Ganze befindet sich in Yiwu, einer Industriestadt etwa 300 Kilometer südöstlich von Shanghai. Aufgrund seiner Produktionsstätten für Weihnachtdekoration ist Yiwu über Chinas Grenzen hinaus bekannt als „Stadt der Weihnacht“.
„Das Geschäft ist hart“, sagt Zao Ying. Es gebe viel Konkurrenz. Und es springe nicht viel dabei heraus. „Zumindest nicht für uns Händler und Arbeiter.“Umgerechnet rund 16 Euro verdiene ihr Mann am Tag, der in einer der Hallen sitzt, in denen die Weihnachtsartikel hergestellt werden. Er säge das Holz für die Krippenfiguren, erzählt sie. Oder für die Weihnachtspyramiden. Ihre 19-jährige Tochter arbeitet in einer anderen Halle. Sie näht Stoffnikoläuse.
Dabei boomt das Geschäft mit Weihnachtsartikeln. Allein im Vorjahr hat es um zwölf Prozent zugenommen, einige Hersteller verzeichnen ein Plus von bis zu 30 Prozent. Nach Angaben der chinesischen Zeitung „China Quality News“liefern alle Firmen der Stadt Yiwu zusammen Weihnachtsartikel im Wert von umgerechnet rund 30 Milliarden Euro. Mitteleuropäer wollen in der Regel am Heiligen Abend noch einen echten Tannenbaum im Wohnzimmer stehen haben. Aber schon in den USA sind Plastikbäume gang und gäbe. Sechs von zehn dieser Christbäume, die in den Vereinigten Staaten gekauft werden, stammen aus Yiwu. Weihnachten in Peking. Die chinesische Zeitung schreibt indes auch, dass derzeit das Geschäft im Ausland stagniere. Vor allem die Märkte in Südamerika und Russland seien eingebrochen. Und auch die Europäer kauften derzeit nicht mehr ganz so viele Weihnachtsartikel wie noch vor ein paar Jahren. Dafür sei die Nachfrage in China kräftig gestiegen.
Peking im Dezember: Ein zwölf Meter hoher Weihnachtsbaum aus Plastik schmückt den Platz eines Einkaufszentrums im beliebten Ausgehviertel Sanlitun. Davor steht ein etwas zu dünn geratener Weihnachtsmann mit verrutschtem Rauschebart und roter Zip- felmütze. Aus einem großen Lautsprecher dudelt Weihnachtspop – „Jingle Bells“, „Joy to the World“, „Last Christmas“. Jedem vorbeigehenden Passanten ruft der schlacksige Weihnachtsmann freundlich „hou, hou, hou“zu.
Dabei ist Weihnachten den meisten Chinesen eigentlich fremd. Wer etwa Passanten nach dem Christkind fragt, was es mit Engeln auf sich hat oder warum Tannenbäume mit bunten Kugeln und Lichtern geschmückt werden, wird meistens Achselzucken ernten. Das Christentum hatte in China eine nur recht kurze Episode, der laizistische Kommunismus hat Religionen nicht gerade gefördert. Noch vor zehn Jahren kannten nur wenige Chinesen das Fest. Lediglich einige Hotels hatten für ihre westliche Kundschaft bunte Christbäume aufgestellt und die Eingangshalle mit Lametta dekoriert.
Heute sind in Pekings Einkaufszentren ab Anfang November Weihnachtsmänner, Engel und Rentiere nicht mehr wegzudenken. Geschäfte sind dekoriert mit Kunstschnee und bunten Lichterketten. Große Kaufhäuser liefern sich einen Wettbewerb um die höchsten Plastiktannen. Ganze Stadtviertel werden in grell erleuchtete Verkaufsflächen verwandelt. Sie locken die Kundschaft mit speziellen „Weihnachtsangeboten“. Weihnachten in China ist vor allem ein Shoppingevent. Die viele Deko bietet bloß das notwendige Setting.
In Yiwu gibt es denn auch keine hübsch aufgemachten kleinen Werkstätten, in denen Wichtel gut gelaunt an Holzspielzeug werkeln. Und wer denkt, dass die viele Weihnachtsware auch in China aus weitgehend vollautomatisierten Fabrikanlagen stammt, wird in diesen Hallen eines Besseren belehrt. In den heruntergekommenen Fabrikhallen arbeiten Zehntausende von meist
Prozent
aller weltweit verkauften Weihnachtsartikel werden in der chinesischen Stadt Yiwu hergestellt.
Milliarden Euro
beträgt der Gesamtwert der Produkte, die dort ansässige Firmen an Händler aus aller Welt liefern. jungen Frauen, die mit Kopftüchern und Mundschutz vor schmutzigen Bottichen stehen und mit einer blutroten Chemikalie hantieren. Bei einigen von ihnen sind Haut und Haare rot verfärbt. Die Dämpfe dringen durch die Kleidung. Ob sie denn wüssten, für welches Fest sie die Waren herstellen? „Ist Weihnachten nicht so etwas wie das Neujahrsfest der Ausländer?“, fragt die Fabrikarbeiterin zurück. Gigantische Lagerhalle. In anderen Hallen drängen sich Männer im mittleren Alter an Werkbänken und schnitzen im Akkord Engel und Nussknacker. „Trotz der gestiegenen Löhne sind Arbeiter immer noch billiger als Maschinen“, sagt der Leiter einer dieser Fabriken, der weder den Namen seiner Firma noch seinen eigenen in der Zeitung stehen haben möchte. Auch Fotos erlaubt er nicht. Im Schnitt 40.000 Besucher kommen am Tag nach Yiwu, sagt der Manager. Die meisten seien Großhändler, die große Mengen kaufen. Die Ansammlung der vielen Verkaufsstände hat auch nicht den Charakter eines gemütlichen Basars, sondern ist eine gigantische Lagerhalle, in denen lieblos Stoffweihnachtsmänner kistenweise gestapelt werden. Gabelstapler und Lieferfahrzeuge fahren umher, die Kisten werden dann in der nahe gelegenen Hafenstadt Ningbo in die ganze Welt verschifft. „Die Verkaufsstände sind schon deutlich weniger geworden“, sagt Zao Ying. Viele Firmen hätten sie abgebaut und würden die Waren online vertreiben. Sie zeigt auf eine Reihe gläserner Bürohäuser am Rand des Geländes. Dort würden junge Leute an Rechnern sitzen und Bestellungen aus aller Welt entgegennehmen. „Vieles ist auf Webseiten wie Alibaba und Made in China abgewandert“, beklagt sie. „Wir sind schon bald überflüssig.“
Vorerst laufe das Geschäft aber noch. Sie zeigt auf ein paar aufgerissene Kisten, die im Hinterraum ihres kleinen Ladens gestapelt stehen. Aus einer Kiste hängen die Ohren der Stoffosterhasen heraus.
»Ist Weihnachten nicht das Neujahrsfest der Ausländer?«, fragt die Fabrikarbeiterin.