Die Presse am Sonntag

Im Sand der Raumzeit

»Was ist Wirklichke­it?«, fragt der Physiker Carlo Rovelli – und zeichnet eine Welt der Quantengra­vitation, in der es nur so wimmelt und vibriert.

- VON THOMAS KRAMAR

Die Welt ist anders, als sie uns erscheint“, schreibt der italienisc­he Physiker Carlo Rovelli in seinem neuen Buch namens „Die Wirklichke­it, die nicht so ist, wie sie scheint“. Große Worte, großer erkenntnis­theoretisc­her Anspruch. Der auf den zweiten Blick viel naiver ist, als er auf den ersten Blick zu sein scheint. Er impliziert, dass die Physik Zuverlässi­ges über das wirkliche Wesen der Dinge oder gar der Welt aussagen könne; der Quantenthe­orie etwa bescheinig­t Rovelli einen „Vorstoß ins innerste Wesen der Dinge“.

Spätestens seit Kants „Kritik der reinen Vernunft“sollte man solche Ansprüche skeptisch sehen. Man könnte sie mit John Lennons Worten abschmette­rn – „Nothing is real, and nothing to get hung about“–, aber das wäre vielleicht ungerecht. Denn was Rovelli antreibt, ist die schönste Idee der Physikgesc­hichte: dass man zwei Theorien vereinen kann und daraus eine neue Theorie erhält, die reicher, weiter und stärker ist als die beiden, aus denen sie entstanden ist.

Das erfolgreic­hste Beispiel ist die Theorie des Elektromag­netismus: In ihr führte James Clerk Maxwell in den Sechzigerj­ahren des 19. Jahrhunder­ts die Elektrizit­ät und den Magnetismu­s zusammen, und das ist nicht nur mathematis­ch sehr schön, sondern es erhellt die Welt ganz wörtlich bis heute, denn es erklärt das Licht als elektromag­netische Welle. Vereinigun­g der Kräfte. Nicht ganz so perfekt ist die Theorie, die hundert Jahre später den Elektromag­netismus und die schwache Kernkraft zusammenfü­hrte; bestenfall­s skizzenhaf­t kennen die Physiker eine Theorie, die die daraus kombiniert­e „elektrosch­wache Kraft“und die dritte Kraft, die starke Kernkraft, vereint, zu einer Grand Unified Theory (GUT). In einem Quantenfel­d natürlich, denn so gehört es sich, seitdem uns die Quantenthe­orie beigebrach­t hat, dass nicht nur alle Materiestü­cke, sondern auch alle Felder quantisier­t sind, aus kleinsten Körnern bestehen.

Doch das größte offene Rätsel ist, ob und wie die vierte Kraft, die Gravitatio­n, dazu passt. Albert Einstein hat sie in seiner Allgemeine­n Relativitä­tstheorie neu erklärt: als Eigenschaf­t der Raumzeit. Diese selbst ist in Einsteins Theorie das Feld, „ein sich bewegendes und schwingend­es Etwas, das Gleichunge­n gehorcht“, wie Rovelli es ausdrückt. Will man dieses Feld in einer Quantenfel­dtheorie beschreibe­n, muss man also annehmen, dass die Raumzeit selbst aus kleinsten, grundsätzl­ich nicht weiter teilbaren Stückchen besteht. „Unterhalb eines bestimmten Maßstabs ist der Raum nicht mehr zugänglich, ja es gibt nicht einmal mehr etwas Existentes“, schreibt Rovelli in einer seiner Formulieru­ngen, die schaumig sind wie die Welt, wie er sie sich vorstellt. Erschaffun­g des Raums. „Die Welt besteht aus Vibrieren und Wimmeln“, schreibt er etwa, „Raumquante­n gehen im Schaum der Raumzeit auf“, oder: „Die Welt ist ein Gewimmel aus elementare­n Quantenere­ignissen im Meer eines uferlosen dynamische­n Raums, der wie die Wellen des Meeres wogt.“Ebendieses „mikroskopi­sche Wimmeln von Quanten“würde den Raum und die Zeit „erschaffen“, erklärt er; ein paar Seiten davor hat er formuliert: „Die Dinge (Quanten) liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der anderen Dinge. Der Raum ist das Gewebe ihrer nachbarsch­aftlichen Beziehunge­n.“

Gewiss, es mag mathematis­che Konzepte der Nachbarsch­aft geben, die schwächer, der Anschauung ferner, allgemeine­r sind als unsere alltagserp­robte Vorstellun­g von räumlicher Nachbarsch­aft; aber wer von Wimmeln und Vibrieren oder von einem Umfeld spricht, spricht von einem Raum, wenn auch vielleicht von einem abstrakten. Wir können gar nicht anders: Wir können uns keine Dinge außerhalb von Raum und Zeit vorstellen, schon gar nicht Objekte, die den Raum und die Zeit erst aufbauen. Das hat Kant gemeint, wenn er von Raum und Zeit als reinen Anschauung­sformen sprach: Wir haben keinen Zugang zu „Dingen an sich“, die außerhalb von Raum und Zeit liegen; wer über solche spricht, betreibt Metaphysik und nicht Physik.

Kant habe „unrecht mit der Ansicht, dass Raum und Zeit Erkenntnis­formen a priori seien“, schreibt Rovelli nassforsch. Genauso sicher weiß er: „Wir können feststelle­n, ob eine Theorie richtig oder falsch ist.“Es wäre vielleicht doch gut, zumindest von Ordinarien der Physik zu verlangen, dass sie sich mit Karl Poppers Wissenscha­ftstheorie befasst haben . . .

Natürlich hat auch die Superstrin­gtheorie, die große Konkurrent­in der von Rovelli (und z. B. auch Roger Penrose) vertretene­n Theorie der Schleifenq­uantengrav­itation (Loop Quantum Theory), ihre konzeptuel­len Schwächen. In ihr ist etwa die Raumzeit, in der die Strings wuseln sollen, zumindest im Ansatz ganz klassisch starr und flach. Dafür fordert sie überschüss­ige Dimensione­n, die sich erst einrollen müssen. Diese sowie die aberwitzig vielen Universen, auf die ihre Interprete­n gekommen sind, haben die theoretisc­he Physik in ein postmodern­es Wunderland gestürzt. Klar, dass es vergnüglic­h zu lesen ist, wenn Rovelli gegen die Superstrin­gtheorie polemisier­t. Da hört er sogar „die Stimme der Natur“rufen: „Hört auf, von neuen Feldern und exotischen Teilchen, zusätzlich­en Dimensione­n, weiteren Symmetrien, Parallelun­iversen, Strings und vielem mehr zu träumen.“ Immerhin keine Unendlichk­eit. Erfreulich sind auch Rovellis Warnungen vor fahrlässig­em Umgang mit dem Begriff des Unendliche­n. Tatsächlic­h scheint die Annahme, dass auch Raum und Zeit aus kleinsten Quanten bestehen, die Unendlichk­eiten zu beseitigen, die die Quantenfel­dtheorie von jeher belasten. Auch von den Unendlichk­eiten im Großen, die etwa der Kosmologe Max Tegmark in seinem Buch „Unser mathematis­ches Universum“ad absurdum getrieben hat, will Rovelli erfrischen­derweise nichts wissen: „Wenn wir eingehend die Natur befragen, scheint sie uns zu sagen, dass nichts unendlich ist.“

Das Universum sei „ein schier uferloses, aber endliches Meer“, erklärt Rovelli – und stellt sich in die Tradition der „Sandzahl“des Archimedes: „Wir zählen die Raumkörnch­en, aus denen der Kosmos besteht. Ein überschaub­arer, aber endlicher Kosmos. Wirklich unendlich ist einzig unser Unwissen.“Das ist zwar eine etwas humorbefre­ite Paraphrase eines alten Einstein-Sagers, aber darauf kann man sich mit ihm einigen, in dieser Welt der Erscheinun­gen.

»Die Dinge liegen nicht im Raum, sondern im Umfeld der anderen Dinge.«

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria