Weihnachten in Angst: »Wir Christen konnten niemandem vertrauen«
Keine Religion zählt weltweit mehr Anhänger, aber auch Verfolgte als das Christentum. »Wenn sie dich beim Beten erwischen, werfen sie dich ins Gefängnis«, sagt ein Christ aus Eritrea. Auch 2016 war kein gutes Jahr für die Religionsfreiheit. Aber es gab Li
Manchmal, wenn er zuhause betet oder Kirchenlieder hört, wandert sein Blick zur Tür. Er schaut durch das Milchglas, ob draußen ein Schatten auftaucht, ein Spion. Es ist eine alte Gewohnheit aus seiner Zeit im Iran, damals, als er immer in der Angst lebte, dass die Religionspolizei anklopft oder bereits einen ihrer Agenten in seine Hauskirche eingeschleust hat. „Wir Christen konnten niemandem vertrauen. Niemandem“, sagt Sajjad. 2016 soll für den 29-jährigen Sportlehrer und Asylwerber das erste angstfreie Weihnachten seines Lebens stattfinden. In einer Wohnung in Österreich.
Andere Christen werden sich während des Festtages wieder verstecken, heimlich eine Kerze anzünden. Im Vorjahr hatten Berichten zufolge drei weitere Länder – Somalia, Tadschikistan und Brunei – das Feiern von Weihnachten untersagt. Diese Schikanen sind nur eine Form der Unterdrückung von Christen, die sich 2016 verschärft hat: Die christliche NGO Open Doors ging bisher von weltweit 100 Millionen verfolgter Christen aus. Für 2016 müsse die Zahl deutlich nach oben korrigiert werden, heißt es. Wobei Open Doors den Begriff Christenverfolgung weit fasst. Unbestritten ist, dass das Christentum mit mehr als 2,3 Milliarden Gläubigen nicht nur die größte Religion ist, sondern auch die meisten Verfolgten zählt.
Die Weltöffentlichkeit nimmt davon meist nur Notiz, wenn die Diskriminierung in Gewalt ausartet – wie vor einer Woche, als ein Anschlag nahe der Markus-Kathedrale in Kairo 25 Menschen tötete, oder im Juli, als der IS seinen Terror in eine nordfranzösische Kirche trug und einen Pfarrer ermordete.
Das Schicksal der Christen in Eritrea läuft hingegen unter dem Radar. Der Staat am Horn von Afrika ist eine abgeschottete Diktatur. Geflohene fürchten auch hier in Österreich den langen Arm der Regierung. Mussei will seinen echten Namen deshalb nicht in der Zeitung lesen. Mit zwölf Jahren hatte sich Mussei, bis dahin Mitglied der anerkannten orthodoxen Kirche, der Pfingstbewegung angeschlossen. 2002 geriet die Glaubensgemeinschaft ins Visier des Staats: „Sie behaupteten, wir seien ein Werkzeug der CIA.“ Ab diesem Zeitpunkt war Mussei nicht mehr sicher. „Wenn sie jemanden beim gemeinsamen Beten ertappten, warfen sie ihn ins Gefängnis.“Mussei wischt über sein Handy, ein Bild öffnet sich, das ein brünettes Mädchen zeigt. Mussei hat mit ihr studiert – und gebetet. „Sie sitzt jetzt seit drei Jahren im Gefängnis. Die Insassen werden misshandelt, bis sie schriftlich ihren Glauben widerrufen“, behauptet Mussei.
Irgendwann platzten die Schergen des Regimes auch in sein Elternhaus: „Sie konfiszierten CDs mit Kirchenliedern und sperrten meine Mutter monatelang ins Gefängnis.“Er war zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht. Die Glaubensunfreiheit, die Perspektivlosigkeit, die Gewalt: Das alles trieb ihn über die Grenze in den Sudan. Ausgerechnet. Das islamische Land zählt neben dem Iran und dem mit dem Westen an sich verbündeten Saudiarabien zu einer Reihe islamischer Staaten, die den „Abfall vom Glauben“ganz weltlich noch mit dem Tod bestrafen. Im Sudan erlebte Mussei Alltagsschikanen, bei der Arbeitssuche etwa. Als er sich bei einem Ladenbesitzer wegen einer freien Stelle erkundigte, fragte ihn dieser: „Bist du Christ oder Muslim?“Mussei sagte die Wahrheit. Und blieb arbeitslos. Exodus. Im Nahen Osten hat die Christenverfolgung ganze Landstriche entvölkert. Die Zahl der Christen im Irak ging Schätzungen zufolge seit 2003 von 1,5 Millionen auf weniger als 300.000 zurück. Auch in Syrien setzte ein Exodus ein. Manuel Baghdi blutet das Herz, wenn er darüber spricht. Der gebürtige Syrer ist Flüchtlingsbeauftragter von Wiens Kardinal Christoph Schönborn – und er ist wütend. Christen würden auch im Westen pauschal als Handlanger des Assad-Regimes porträtiert, das sei „eine Schande“, sagt Baghdi. Die Lage sei nämlich „viel, viel komplizierter“. Es gebe auch Christen unter den Rebellen. „Wir sind nicht naiv“, sagt er, und meint die Gräueltaten Assads. „Aber es stimmt eben auch, dass Christen vor dem Arabischen Frühling ihren Glauben in Syrien frei ausleben konnten, und dass sie jetzt vor der Wahl stehen, in Assads Gebieten Schutz zu suchen oder Gefahr zu laufen, von Terroristen getötet zu werden.“
Christen zwischen allen Stühlen: Die Geschichte wiederholt sich offenbar. Nach dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten 2003 im Irak hätten dort die Christen als Sündenböcke herhalten müssen. Damals galten sie als Komplizen der „Ungläubigen“, nun eben pauschal als Assad-Anhänger.
Es gibt auch Lichtblicke, selbst in Syrien, wo notleidende Muslime und Christen einander oft gegenseitig helfen, sagt Bagdhi. Und in der irakischen Ninive-Ebene wurden urchristliche Dörfer von IS-Besatzung befreit. Die Rückeroberung gab den Blick frei auf die Zerstörungen: geschändete Gräber, entweihte Kirchen, Türen, auf die die Terroristen ein „N“für „Nazarener“, sprich „Christ“, geschmiert hatten. Schwierige Rückkehr. Louis Raphael¨ Sako, Patriarch der chaldäischen Kirche im Irak, dämpft gegenüber der „Presse am Sonntag“die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr der Christen in die befreiten Gebiete: Sie „haben noch immer Angst“, erklärt er – erst recht nach der Nachricht aus dem syrischen Palmyra, das völlig überraschend vom IS zurückerobert worden ist. „Der militärische Sieg über die Jihadisten allein löst auch nicht das Problem“, so Sako. Er meint damit die „verbreitete extremistische Ideologie“. Es brauche als Antwort moderate religiöse Lehren. Den Schaden in den christlichen Dörfern schätzt er „auf 30 bis 40 Prozent“. „Doch der Irak hat kein Geld wegen der Korruption und des Kriegs.“Ein Rattenschwanz an Fragen also, der vor der Rückkehr der Gläubigen beantwortet werden müsse.
Vom Westen wähnten sie sich während der Katastrophe der vergangenen Jahre im Stich gelassen. Sako: „Die Christen im Irak haben das Gefühl, dass die Politiker in Europa und den USA die Menschenrechte für ihre eigenen Interessen aufgegeben haben.“
Trotz der Spur der Verwüstung, die der IS durch den Nahen Osten gezogen hat: Den Open-Doors-Weltverfolgungsindex führt jährlich ein nichtmuslimsches Land an: Nordkorea. In der paranoiden Kim-Diktatur gibt es keine Religionsfreiheit, Christen werden in Arbeitslager geworfen oder hingerichtet. Dabei zeichnet sich ein Trend ab, wonach Christen auch dort verfolgt werden, wo ein Regime Glaubensgemein-
Die Christen zwischen allen Fronten: zuerst im Irak und jetzt in Syrien. »Muslim oder Christ?« Mussei sagte im Sudan die Wahrheit – und blieb arbeitslos.
schaften als Keimzelle eines politischen Widerstands interpretiert. Open Doors warnt zudem vor einem religiös gefärbten Nationalismus, der sich in Asien, etwa in Indien, ausbreite, wo auch Kirchen brennen. Radikaler Hinduismus zielt aber vor allem auf Moslems. Vielleicht war es auch deshalb lange verpönt, die weltweite Christenverfolgung hervorzuheben: Weil religiöse Unfreiheit eben nicht nur Christen betrifft. Völkermord. Diese Einstellung ändert sich allmählich. Mehrere NGOs, auch in Österreich, machen Druck. Das EUParlament verurteilte heuer den IS-Terror als Völkermord an Christen und anderen Minderheiten, die EU-Kommission hat mit dem Slowaken Jan´ Figel’ erstmals einen Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit außerhalb der EU. Und Papst Franziskus prangert regelmäßig die Christenverfolgung an. „Heute gibt es mehr Märtyrer als im ersten Jahrhundert“, sagte er einmal.
Die meisten von ihnen starben heuer neben Pakistan in Afrika südlich der Sahara: Dort wütet unter anderem die somalische al-Shabaab-Miliz und die Islamistensekte Boko Haram. Letztere schickte vor einer Woche zwei Mädchen los, die sich in Maiduguri, Nigeria, in die Luft sprengten. Die lokale Erzdiözese fürchtet den Beginn einer Terrorserie. Schließlich naht Weihnachten.