Jobwunder auf böhmische Art
Kein anderes EU-Land hat eine so niedrige Arbeitslosigkeit wie Tschechien. Die Wirtschaft brummt, die Hauptsorge der Firmen sind fehlende Fachkräfte. Wie ist es dazu gekommen?
Not macht erfinderisch. Die Firma IT Automotive in Nordböhmen beschäftigt in ihrem Dreischichtbetrieb auch 52 Häftlinge. Im Jahr 2012, als der Automobilzulieferer den Deal mit einem nahe gelegenen Gefängnis ausschnapste, steckte Tschechien noch in einer leichten Rezession. Heute versuchen laut Industrieverband zahlreiche Unternehmen, diesem kuriosen Beispiel zu folgen. Denn Aufträge hat die tschechische Wirtschaft heute mehr als genug. Aber Mitarbeiter zu ihrer Abarbeitung werden oft verzweifelt gesucht.
Der leer gefegte Arbeitsmarkt hat Tschechien zum leuchtenden Vorbild in Europa gemacht. Das Land hat aktuell die niedrigste Arbeitslosenquote in der gesamten EU: 3,7 Prozent nach der einheitlichen Eurostat-Definition – in Österreich liegt dieser Wert mit 5,8 Prozent um mehr als die Hälfte höher. Bei den nördlichen Nachbarn herrscht also de facto Vollbeschäftigung. Wie haben sie das hingekriegt? Das große Bild auf lange Sicht zeigt: In so mancher Hinsicht ist Tschechien eine ärmere Version des mächtigen Deutschlands – starke industrielle Basis (vor allem Autos und Maschinen), hohe Exportorientierung, rekordverdächtige Überschüsse in der Handelsbilanz, solide öffentliche Haushalte und Staatsschulden, die keine Sorgen bereiten.
Auch wenn das Niveau der Löhne viel niedriger ist, verlief ihre Entwicklung ähnlich wie beim wichtigsten Handelspartner: Die Erhöhungen lagen über viele Jahre weit unter den Fortschritten bei der Produktivität. Hier aber nicht deshalb, weil Sozialpartner an einem Strang zogen, sondern weil Gewerkschaften in dem postkommunistischen Land wenig zu sagen haben. Jedenfalls konnten die Exporteure, vielfach Töchter westlicher Konzerne, wei- ter an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen. Nun sorgt die Knappheit auf dem Arbeitsmarkt für kräftig steigende Reallöhne. Was ähnlich wie bei den Deutschen eine segensreiche Entwicklung in Gang setzt: Der Privatkonsum gewinnt an Bedeutung, er mildert die riskante Abhängigkeit von Exporten und Weltkonjunktur. Man kann es in die alte österreichische Sportlerweisheit fassen, auch wenn sie auf Hochdeutsch komisch klingt: Wenn es läuft, dann läuft es. Künstlich schwache Krone. Gießen wir ein wenig Wasser in den Wein: Die üppigen 4,5 Prozent Wachstum von 2015 kamen nur zustande, weil die Regierung noch schnell EU-Mittel ausschöpfen musste und sie auf die Schnelle in die Infrastruktur streckte. Die 2,4 Prozent BIP-Plus vom Vorjahr sind für ein Land, dessen Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung immer noch fast ein Drittel unter der österreichischen liegt, wenig spektakulär – zumal die Geldpolitik für reichlich Rückenwind sorgt: Durch aufwendige Interventionen auf dem Devisenmarkt hält die Notenbank die Währung seit 2013 künstlich niedrig, bei 27 Kronen für einen Euro. Das freut natürlich die Exporteure, weil die schwache Krone ihre Waren im Ausland verbilligt. Auch hier die Parallele: Die Deutschen profitieren ähnlich davon, dass der Euro für die Stärke ihrer Volkswirtschaft zu niedrig notiert.
Das geht so lang gut, bis die Märkte überhitzen und die Inflation kräftig anzieht. Steigende Löhne und Rohstoffpreise dürften die Zentralbanker in Prag heuer wohl dazu bewegen, die Krone freizugeben. Was vielleicht für einen leichten Dämpfer sorgen könnte.
Und die wenigen Arbeitslosen? Sie sind kein Erfolg einer aktiven Arbeitsmarktpolitik (die es in Böhmen und Mähren gar nicht gibt). „Sie haben auch wenig mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun“, erklärt Tschechien-Experte Leon Podkaminer vom Wiener WIIW, „aber dafür sehr viel mit der Demografie.“In ganz Osteuropa sind die Geburtenraten schon lang zu niedrig. Aber in Tschechien ist der An-
Prozent
der tschechischen Wirtschaftsleistung gehen in den Export. In Österreich sind es nur 53 Prozent.
Prozent
trägt die Industrie zur Wirtschaftsleistung bei – der bei Weitem höchste Wert in der Europäischen Union.
Euro
beträgt das BIP pro Kopf in Kaufkraftstandards (Prognose 2016). Das sind gut zwei Drittel des österreichischen BIPs.
Prozent
der 10,5 Millionen Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Ein niedriger Wert, der sich aber seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt hat. teil der Erwerbsfähigen an der Gesamtbevölkerung besonders stark gesunken: von 72 auf 66 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Zwar gibt es neben Boomregionen wie dem Großraum Prag auch strukturschwache Zonen, aber ein Ausgleich findet kaum statt. Die Tschechen sind wenig mobil, weil vier von fünf Haushalten nicht mieten, sondern Haus oder Wohnung besitzen.
Das Land wirkt wirtschaftlich wie eine ärmere Version des mächtigen Deutschland. Die so niedrige Zahl an Arbeitslosen hat viel mit der Demografie zu tun.
Noch etwas verschärft den Engpass, vor allem in Grenznähe: „Gute Facharbeiter wandern nach Deutschland oder Österreich aus, weil sie dort viel mehr verdienen. Nur die weniger Guten bleiben da“, weiß der oberösterreichische Bauunternehmer Gerald Auböck, der neben seinem Stammhaus in Enns eine Tochter in Böhmisch-Krumau leitet.
Damit kommen die Tschechen nicht darum herum, Ausländer ins Land zu lassen – was, siehe Flüchtlingskrise, sonst gar nicht ihre Art ist. Freilich von nicht weit her und nur aus christlichen Gefilden: Vor allem Ukrainer und Slowaken füllen die Lücken, ob als Ärzte oder auf dem Bau, zum Teil als Gastarbeiter, zum Teil auf Dauer. Da die Erwerbsbevölkerung weiter schrumpft, geht Experte Podkaminer von einem „permanenten Phänomen“aus, also von weiter kräftigem Zuzug.
Was können die Österreicher sich abschauen, wovon profitieren? Unternehmer Auböck schwärmt von den flexiblen Arbeitszeiten: „Jetzt stehen die Baustellen still, dafür arbeiten wir in der Hochsaison im Sommer sechs Tage in der Woche.“Und Christian Miller, der Wirtschaftsdelegierte in Prag, hat eine Botschaft für heimische Exporteure und Investoren parat: „Tschechien produziert für Westeuropa. Dort können nur Topprodukte reüssieren.“Dafür brauche es „genauso gute Maschinen, Vormaterialien und Komponenten“– am besten aus Österreich.