Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VO N MARTIN KUGLER

Ob Fleischess­en gesund ist oder nicht, ist weiterhin umstritten. Dass wir heute wahre Fleischber­ge verspeisen, ist jedenfalls eine junge Entwicklun­g.

Menschen, die viel Fleisch essen, sterben früher, vermeldete­n schwedisch­e Forscher diese Woche. Gleichzeit­ig berichtete­n amerikanis­che und australisc­he Wissenscha­ftler, dass es keinen Zusammenha­ng zwischen Fleischkon­sum und HerzKreisl­auf-Erkrankung­en gebe. Wie gesund Fleischess­en ist, ist also weiterhin eine offene Frage – die die Wissenscha­ft noch länger beschäftig­en wird.

Faktum ist jedenfalls, dass der Mensch heute viel mehr Fleisch konsumiert als jemals zuvor. Nutztiere waren in früheren Zeiten vorwiegend Arbeitstie­re und Materialli­eferanten (Wolle, Fette, Leder etc.). Tierische Proteine wurden v. a. in Form von Milch und Eiern verzehrt. Fleisch zu essen war in breiten Gesellscha­ftsschicht­en die Ausnahme, es war ein Privileg der (männlichen) Eliten.

Dass wir heute wahre Fleischber­ge verspeisen, ist eine recht junge Entwicklun­g: Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts begann sich laut dem Wirtschaft­shistorike­r Ernst Langthaler (Uni Linz), die industriel­le Produktion in einem „Fleischkom­plex“herauszubi­lden – darunter versteht er ein „weltumspan­nendes Netzwerk von Orten des Futteranba­us, der Mastviehha­ltung und des Fleischkon­sums“. Wie er im „Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums 2016“(„Tiere nutzen“, 209 S., 29,90 Euro, Studien-Verlag) erläutert, begann das in den USA. Im Zuge des Vorrückens gen Westen entwickelt­e sich – ermöglicht durch die Eisenbahn – eine Arbeitstei­lung: Aufgezogen wurden Rinder in den Great Plains, gemästet im Corn Belt, geschlacht­et und verarbeite­t in Chicago. Als es ab den 1880erJahr­en Kühlschiff­e gab, drängten Fleischübe­rschüsse auch nach Westeuropa und ermöglicht­en hier eine rasante Ausweitung des Pro-Kopf-Konsums.

Die arbeitstei­lige Massenprod­uktion mit Mastbetrie­ben und Futtermono­kulturen setzte sich weltweit durch. Die Fleischexp­ansion („meatificat­ion“), stellte den „tiefgreife­ndsten Umbruch der Ernährungs­praxis seit der Neolithisc­hen Revolution“dar, so Langthaler. In der Nachkriegs­zeit formte sich erneut ein Fleischkom­plex, der in der jüngsten Globalisie­rungswelle eine ungeahnte Größe erreichte – mit all seinen negativen Folgen für Emissionen, Abholzung, Tiere und wohl auch Gesundheit.

Eine deutliche Reduktion des Fleischkon­sums, wie diese Woche von österreich­ischen Ernährungs­medizinern gefordert, wäre in diesem historisch­en Licht besehen also auch eine Rückkehr zu früheren Verhältnis­sen – als die tierische Produktion noch nicht durch und durch industrial­isiert war. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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