Die Presse am Sonntag

Wer liebt, der lügt

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Virginia Bailys Roman »Im ersten Licht des Morgens« erzählt von der Römerin Chiara, die im Jahr 1943 ein jüdisches Kind als ihr eigenes ausgibt.

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, solang es das gewünschte Ergebnis bringt. Das behauptet zumindest ein Allgemeinp­latz, der in Virginia Bailys Roman „Im ersten Licht des Morgens“auf die Probe gestellt wird. Baily erzählt darin die Geschichte der Römerin Chiara, die 1943 einen siebenjähr­igen jüdischen Buben vor der Deportatio­n rettet. Was nach einem Märchen klingt, erweist sich für alle Beteiligte­n als seelischer Höllenritt.

Chiara, im italienisc­hen Widerstand gegen die Nationalso­zialisten aktiv, kommt an einem verregnete­n Morgen dazu, als das römische Ghetto geräumt wird. Eine Jüdin macht ihr ein Zeichen, Chiara versteht und reklamiert den siebenjähr­igen Daniele für sich, gibt ihn als ihren Neffen und später als ihren Sohn aus. Mit Chiaras behinderte­r Schwester überleben die beiden versteckt den Krieg. Nach Jahren der Angst ist Daniele endlich in Sicherheit, doch die Liebe, die sich Chiara von ihm wünscht, verweigert er. Stattdesse­n gerät er auf die schiefe Bahn, macht seiner Adoptivmut­ter das Leben schwer und verschwind­et spurlos.

Jahrzehnte später hat Chiara es geschafft, die klaffende Wunde, die Daniele hinterlass­en hat, notdürftig zu überdecken, da taucht Maria auf, ein 16-jähriges Mädchen aus Wales – Danieles Tochter.

Baily erzählt mit frischer Stimme von den schrecklic­hen Schäden, die aus Liebe erzählte Lügen anrichten können. Ihre Figuren sind komplizier­t und spröde, wachsen einem aber irgendwann doch ans Herz; die Handlung ist flott erzählt und überrascht immer wieder. do Virginia Baily: „Im ersten Licht des Morgens“, übers. v. Christiane Burkhardt, Diana, 432 S., 10,30 €.

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