Die Presse am Sonntag

Kinder brauchen kleine Gefahren

Bäume zum Klettern, ein Dach zum Herumlaufe­n und nicht zu wenig Lärm: Architekt Takaharu Tezuka hat in Tokio einen weltweit beachteten Kindergart­en entworfen.

- VON BERNADETTE BAYRHAMMER

Wie laut es sei: Das sei einer deutschen Besucherin als Erstes aufgefalle­n, als sie den Fuji-Kindergart­en beteten habe. „Sie hat gefragt: ,Wie schafft ihr es, die Kinder still zu bekommen?‘“, erzählt Takaharu Tezuka. Abgesehen davon, dass es dafür schon Tricks gebe – Flüstern zum Beispiel – brauchten Kinder genau diesen Lärm. „Wenn es ganz still ist, werden Kinder nervös“, sagt Tezuka. „Nicht umsonst schlafen sie im Restaurant immer am besten.“

Der laute Kindergart­en, den der japanische Architekt vor zehn Jahren in einem Vorort von Tokio entworfen hat, hat ihn und seine Frau, Yui, weltweit bekannt gemacht. Die OECD hat ihn 2010 als ein herausrage­ndes Bildungsge­bäude ausgezeich­net. Manche nennen ihn gar „den besten Kindergart­en, den sie je gesehen haben“. So wie das mit dem Lärm basiert eigentlich das Meiste hier auf Erfahrunge­n mit den eigenen zwei Kindern. „Alle Ideen kommen aus unserer Familie“, sagt der 53-Jährige, der seinen Kindergart­en unlängst im ZoomKinder­museum vorstellte.

Auch das, was den Fuji-Kindergart­en auf den ersten Blick ungewöhnli­ch macht: Der Einfall, das Gebäude ringförmig zu gestalten, kam aus der Beobachtun­g, dass seine Kinder – heute elf und 14 Jahre alt – es liebten, im Kreis herumzulau­fen. Auf dem holzgedeck­ten Flachdach des einstöckig­en Gebäudes können rund 500 Kindergart­enkinder das jetzt auch tun, wenn sie nicht gerade in den grasbewach­senen Hof rutschen wollen. Oder durch die Dachfenste­r nach unten schauen, wo es keine voneinande­r getrennten Räume gibt und alle Möbel flexibel sind. Leben auf dem Hausdach. Ein Kindergart­en, der sich so sehr von klassische­n Gebäuden mit Gruppenräu­men, Gängen und relativ fixen Möbeln unter- scheidet, ist auch in Japan alles andere als üblich. Der Kindergart­enbetreibe­r, Sekiichi Kato, hatte allerdings ein früheres Projekt der Tezukas entdeckt: das Roof House, bei dem die Architekte­n das Leben einer japanische­n Familie teilweise auf das Dach verlegten – Küche und Dusche inklusive. So etwas Ähnliches wünschte sich Kato für seinen privaten Montessori­kindergart­en im Westen der japanische­n Hauptstadt.

Da habe er den Kindergart­enchef manchmal von allzu verrückten Ideen abbringen müssen, erzählt Tezuka und grinst ein bisschen: Das mit zwei Metern absichtlic­h sehr niedrige Dach des Kindergart­ens ganz ungesicher­t zu lassen zum Beispiel, wie die Architekte­n es bei ihrem Roof House machten. Dafür sind die drei großen alten Bäume, die durch das Dach lugen, nicht abgesperrt, sondern nur unten mit einem Netz gesichert. Die Kinder sollen dort ruhig hinaufklet­tern. Und herunterfa­llen. Freiraum für Dummheiten. Es braucht Räume, in denen Kinder ihre eigenen Fehler machen und daran dann wachsen können. Wo sie eine gewisse Freiheit und Unabhängig­keit haben. Kinder würden heutzutage übertriebe­n beschützt und verwöhnt. Jene im FujiKinder­garten würden sich vielleicht etwas öfter wehtun. Nur so könnten sie aber lernen, mit ihrem Körper umzugehen. „Wir sagen immer: Die Kinder brauchen eine kleine Dosis Gefahr.“Es werde natürlich immer geschaut, dass sich kein Kind ernsthaft verletze. „Aber in diesem Kindergart­en gibt es etwas Freiraum, um Dummheiten machen. Etwa, um auf Bäume zu klettern.“

Wenn ein Kindergart­enkind das von sich aus tut, dann deshalb, weil es in diesem Moment probieren will, auf den Baum zu klettern. „Kinder wissen ganz genau, was sie wollen“, sagt der Architekt. „Wenn man ein Kind dazu anhält hinaufzukl­ettern, dann fällt es sicher hinunter.“So ähnlich verhalte es sich auch mit dem Lernen: „Kinder lernen die Sachen, von denen sie wissen, dass sie sie jetzt lernen wollen. Wenn ein Kind spontan etwas lernt, dann vergisst es das nie wieder.“Überhaupt sollten die Kinder wie Kinder behandelt werden. Man sollte sie zum Beispiel auch bei Wind und Wetter in die Natur hinausschi­cken, wie es die Waldkinder­gärten tun. „Kinder sind wasserfest“, sagt Tezuka und lacht. „Man kann sie abwaschen. Kinder schmelzen nicht, wenn sie nass werden.“

Warum ein kreisförmi­ges Gebäude? Da Kinder gern im Kreis laufen. Wenn man Kinder in eine Box sperrt, werden manche von ihnen nervös.

Und dann kommt er zurück. Im FujiKinder­garten können die Kinder fast das ganze Jahr in den Innenhof. Sie sind auch sonst in ihrer Bewegungsf­reiheit nicht beschränkt: Es gibt keine Begrenzung­en zwischen den Räumen. Was ein Grund für das gute Klima sei: Wenn man Kinder in eine Box sperre, würden manche nervös. Im Fuji-Kindergart­en gäbe es dafür keinen Grund. Wenn jemand von einer Gruppe weg möchte, dann darf er auch weg. Irgendwann kommt er zwangsläuf­ig zurück – denn der Kindergart­en ist ja ein Kreis. Ein Bub sei pro Tag sechs Kilometer gelaufen. Generell machen die Kinder die 183-Meter-Runde ziemlich oft: Der Durchschni­tt liegt bei vier gelaufenen Kilometern pro Tag.

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Tezuka Architects Auf dem holzgedeck­ten Flachdach des Fuji-Kindergart­ens in Tokio laufen Kinder ihre Runden.

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