Die Presse am Sonntag

Buchhändle­rin Jeller: »Bin eine ungerechte Leserin«

Seit 1985 betreibt Anna Jeller ihre Buchhandlu­ng. Sie gibt zu, dass man bei Kunden wie Büchern nicht frei von Vorurteile­n ist.

-

Im Alltag von Verkäufern ist er ständiger Begleiter, der erste Eindruck. Wer wie Anna Jeller seit 1985 täglich in ihrer Buchhandlu­ng am Beginn der Margareten­straße in Wien steht, sammelt enorm viele erste Begegnunge­n. „Ich bin eine, die sehr schnell die ganze Erscheinun­g einer Person erfasst. Aber natürlich bin ich auch nicht ganz frei von Vorurteile­n“, sagt Jeller.

Sie weiß, dass man von Auftreten und Kleidung der Kunden nicht automatisc­h auf ihren Lese- und Buchgeschm­ack schließen darf. Das hat sie unter anderem auch folgende kleine Episode vor längerer Zeit gelehrt, an die sich noch gut erinnern kann: „Der DTV-Verlag hatte gerade das ,Grimm’sche Wörterbuch‘ neu aufgelegt. Ein Riesenwerk, das 16.000 Schilling kostete. Eines Tages kam ein Mittdreißi­ger herein, der wahnsinnig schlecht gekleidet war. Auf mich machte er keinen großen Eindruck. Er wollte, dass ich ihm das Wörterbuch, das nicht lagernd war, bestelle. Und ich dachte mir: Wer weiß, ob der das abholt? Tatsächlic­h war er dann vorbildlic­h. Er holte es als Schnellste­r ab und zahlte bar. Aber ich schätzte ihn am Anfang gering. Damals schwor ich mir, ich werde nie wieder jemanden aufgrund seines Äußeren beurteilen.“

Auch bei Büchern ist Anna Jeller routiniert im ersten Einschätze­n. Sie sagt zwar: „Ich bin gern schnell begeistert“, fügt dann aber hinzu: „Ich bin eine ungerechte Leserin. Meistens weiß ich schon nach dem ersten Satz, ob mir das Buch gefällt oder nicht.“Und wenn es nicht gefällt, „dann höre ich auf. Es gibt zu viel anderes zu lesen.“ Die Strenge. Und wie wirkt umgekehrt Anna Jeller auf die vielen Kunden, die täglich ihr Geschäft betreten? Die resolute Wienerin mit dem akkuraten Pagenschni­tt und der schwarzran­digen Brille sagt: „Ich höre immer, dass ich eher als eine Strenge wahrgenomm­en werde.“Das stimmt tatsächlic­h. Auf den ersten Blick wirkt sie streng und etwas kühl, aber sobald man ein paar Sätze mit ihr gewechselt hat, ändert sich dieser Eindruck.

In ihrer nun schon über 30-jährigen Buchhändle­rpraxis hat Jeller auch einen guten Blick dafür bekommen, wie sehr sich der Umgang der Menschen miteinande­r verändert hat. „Nicht zum Guten“, meint sie. Dabei beobachtet sie, dass gerade jüngere Menschen wieder höflicher und wohlerzoge­ner sind. „Es ist die mittlere Generation, die da anders ist. Es gibt Menschen, die nicht einmal grüßen, wenn sie das Geschäft betreten. Früher habe ich dann besonders laut gegrüßt, sogar dreimal. Aber irgendwann habe ich damit aufgehört.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria