»Ich war den Menschen suspekt«
Anna Kims neuer Roman handelt von Liebe, Freundschaft und Verrat im Korea des Kalten Kriegs. Mit der »Presse« sprach sie über ihren Vater, verpönte Wörter und verpönte Fragen.
Sie haben Ihren Roman „Die große Heimkehr“Ihrem Vater gewidmet. Warum? Anna Kim: Als mein Vater gestorben ist, war ich elf Jahre alt, ich bin nie dazu gekommen, mit ihm über ihn und seine Geschichte zu sprechen. Aber bei den Recherchen für dieses Buch habe ich herausgefunden, dass er 1960 einer jener Gymnasiasten war, die an den Protesten gegen die Regierung teilgenommen haben, er hat die Demonstrationen mitinitiiert. Er kommt auch als kleine Nebenfigur in meinem Roman vor. Ich habe mich sehr gefreut, das zu erfahren, ich war sehr stolz. Auch mit Ihrer Mutter haben Sie bis dahin nie darüber gesprochen? Die Vergangenheit ist nicht so unverfänglich, wie sie aussieht. Es ist nicht ehrenhaft für eine koreanische Familie, gegen den Staat aufzubegehren – und die Leute, die in der Diktatur wichtige Positionen innehatten, sind ja heute zum Teil immer noch an der Macht. Aber für den Roman haben wir viel darüber geredet, ich habe sie auch gefragt, ob sie mitdemonstriert hat, und sie hat gemeint, sie habe sich zu sehr gefürchtet. Sie war ja damals ein Mädchen, 17 Jahre alt. Das wäre für eine junge Frau viel gefährlicher gewesen. Wie eng ist Ihre Verbindung zu Südkorea? Nicht sehr eng. Ich bin mit zwei Jahren von meiner Familie aus dem Land gebracht worden, ich bin in Wien aufgewachsen und zur Schule gegangen. Meine Eltern waren katholisch, sie haben sich hier sofort zugehörig gefühlt – und sicher. Das kritische Verhältnis meiner Eltern zu ihrem Heimatland hat sich sicher auf mich übertragen. War es eine Art Heimkehr, für dieses Buch zu recherchieren? Vielleicht in dem Sinn, dass ich manche Verhaltensweisen meiner Eltern verstehen gelernt habe. Ich habe erkannt, welche starke Rolle das Konfuzianische in meiner Erziehung gespielt hat. In Ostasien gilt es zum Beispiel als sehr unhöflich, viele Fragen zu stellen. Ich habe aber schon als Kind immer unglaublich viel gefragt, das fand meine Mutter furchtbar, sie hat mich immer wieder zurechtgewiesen. Erst jetzt habe ich verstanden, woher das kommt: Als ich in Korea Interviews geführt habe, war ich den Menschen schnell suspekt, weil ich so viel wissen wollte, zumal als Frau. Die Ich-Erzählerin in Ihrem Buch stellt überhaupt keine Fragen, sie lässt Yunho einfach seine Geschichte erzählen. Das ist die einzige Möglichkeit, an Informationen zu kommen, das musste ich erst lernen. Ein Gespräch steuern zu wollen, damit kam ich nicht weiter. Wenn ich etwas aus den Menschen herausbekommen wollte, musste ich mich hinsetzen und zuhören. Das war ein Kulturschock. Vor allem mit Männern hatte ich Probleme: Ich habe mich nicht so verhalten, wie ich mich als Frau verhalten sollte. Dazu kommt mein Akzent. Welchen Akzent hat denn Ihr Koreanisch? Ein Cousin hat mir erklärt, er sei japanisch. Jemand anderer hat gemeint, ich klinge wie eine Nordkoreanerin, was vielleicht daher kommt, dass ich die Sprache von meiner Mutter gelernt habe: Sie verwendet Wörter aus den 1950er- und 1960er-Jahren, ihr Vokabular ist zum Teil noch vom Kalten Krieg geprägt. Und das ist natürlich heutzutage verpönt und klingt antiquiert. Wie sind Sie auf diese Geschichte gekommen? Zwei Männer, eine Frau, Spionage . . . Ich habe im Archiv des Roten Kreuzes in Genf eine Notiz über das Verschwinden einer japanisch-koreanischen Schülerin gefunden. Es war nur ein kurzer Bericht, aber so rätselhaft und schön geschrieben, dass ich sofort gedacht habe: Das muss in ein Buch. Aus dieser einen Notiz ist dann der ganze Roman geworden, wie genau, weiß ich auch nicht: Romane haben ja diese Angewohnheit zu wachsen, zumindest wenn man das richtige Thema gefunden hat. Und diese 1950er- und 1960erJahre waren ja eine unglaublich aufgeladene, unglaublich heftige Zeit. Der Kalte Krieg hat mich sehr interessiert. Yunho verliebt sich in Eve, vertraut ihr seine innersten Regungen an. Und dann muss er entdecken, dass sie ihn ausspioniert hat. Ist es möglich, dass man sich in einem Menschen so täuscht? Wenn es dieser Mensch darauf anlegt. Für Eve ist es ihr Beruf, und dazu gehört, das Vertrauen von Menschen zu erschleichen und auszubeuten. Es hat mich gereizt, eine so ambivalente
1977
wurde Anna Kim in Südkorea geboren. Im Alter von zwei Jahren emigrierte sie mit ihren Eltern, zuerst lebte sie in Deutschland, ab 1983 in Wien. Sie studierte Philosophie und Theaterwissenschaft.
2004
erschien ihr erster Roman, „Die Bilderspur“. In „Die gefrorene Zeit“(2008) beschreibt sie die Suche eines Kosovaren nach seiner verschwundenen Frau, vier Jahre später folgte „Anatomie einer Nacht“über eine rätselhafte Selbstmordwelle in Grönland, das sie 2009/2010 bereist hatte.
Anfang 2017
veröffentlichte der Suhrkamp-Verlag Anna Kims jüngsten Roman, „Die große Heimkehr“: Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Freunde, die sich während des Kalten Kriegs auf verschiedenen Seiten wiederfinden – und sich in dieselbe Frau verlieben. Ein Spionageroman, der detailliert Einblicke in die koreanische Geschichte gibt. Frauenfigur zu erschaffen. Vertrauen steht ja immer in Zusammenhang mit Loyalität. Wenn Eve aber von Anfang an einer Überzeugung gegenüber loyal war und das Vertrauen eines anderen gebraucht hat, um loyal zu bleiben – dann ist das nicht mehr so eindeutig. Die Frage ist, was man höher wertet: die Idee oder die Beziehung. Man sieht ja heute, wie Ideen wieder wichtiger werden als die einzelnen Menschen und ihre Schicksale, wie Familien dadurch entzweit werden. Diese ideologischen Fronten tun sich auch in Europa auf. Während ich das Buch geschrieben habe, habe ich mehr an die Gegenwart gedacht als an die Vergangenheit. Zu dieser Zeit hat Erdogan˘ gerade den Ausnahmezustand ausgerufen, und ich hatte den Eindruck, ich erlebe, was ich gerade aufgeschrieben habe. Das war unheimlich. Wie würden Sie Heimat definieren? Ich glaube tatsächlich, dass es ein Ort ist. Von Kollegen wird Heimat ja oft als etwas Ungeografisches beschrieben, die Sprache sei die Heimat oder einzelne Menschen, aber das glaube ich nicht. Menschen und Sprache sind ja auch an Orte gebunden, das lässt sich nicht wegideologisieren: Für mich ist Wien Heimat, weil ich hier aufgewachsen bin. Dazu gehört, dass es eine Routine gibt, einen Alltag. Wiederholungen öffnen die Augen für die Details. Ich bin ja immer zu Fuß in die Schule gegangen, immer den gleichen Weg, ich habe oft darüber geschimpft, wie langweilig das ist, aber trotzdem: So bekam ich mit, wie sich die Straße veränderte, die Büsche wuchsen. Das alles bemerkt man nicht, wenn man einen Weg nur einmal oder zweimal geht. Korea hat für Sie nichts Heimatliches? Es gibt koreanische Sprichwörter, die meine Mutter verwendet hat, die in mir sofort ein Gefühl der Heimat wecken. Und Gerüche! Die Kombination aus Chili und Knoblauch ist für mich sehr koreanisch. Ich habe als Kind immer Pakete bekommen, von meinen Großeltern, meinen Onkeln und Tanten, und wenn ich die Pakete aufgemacht habe, ist dieser Geruch herausgeströmt. Denselben Geruch, oder einen ähnlichen, habe ich in Seoul auf den Märkten wiedergefunden.