Konferenztischtäter: Eine Villa wird zum Symbol des NS-Terrors
Vor 75 Jahren treffen sich Spitzenbeamte des NS-Regimes, um ein Jahrhundertverbrechen voranzutreiben. Noch heute heißt es fälschlicherweise, auf der Wannseekonferenz sei die »Endlösung« beschlossen worden. Der renommierte Historiker Peter Longerich rückt
Etwa eineinhalb Stunden beraten sich 15 Männer in dem Speisezimmer der mondänen Villa über den „einzigen Tagesordnungspunkt“: Man steckt Kompetenzen ab, tut sich mit Vorschlägen hervor, diskutiert Organisatorisches. Der Gastgeber trinkt danach im kleinen Kreis einen Cognac und pafft an seiner Zigarre. Er ist mit sich und der Welt zufrieden. Zumindest wird das Jahre später einer der Teilnehmer behaupten.
Der einzige Tagesordnungspunkt ist die „Endlösung der Judenfrage“, der Holocaust. Der Gastgeber der Regierungskonferenz heißt Reinhard Heydrich, unter anderem Chef des Reichssicherheitshauptamts und SS-Obergruppenführer. Die Kulisse für das Treffen bietet ein SS-Gästehaus mit nobler Adresse: am Großen Wannsee 56–58.
Heute ist die Villa am Westrand Berlins ein Mahnmal für den bürokratisch organisierten Völkermord. Zwei Millionen Besucher machten sich in der Gedenkstätte bereits ein Bild vom Abgrund zwischen dem Idyll, dem Landhaus mit Seeblick, Springbrunnen und Wintergarten und dem Jahrhundertverbrechen, das dort geplant wurde. Dass an jenem 20. Jänner 1942 auch der Beschluss zum Holocaust fiel, ist jedoch ein weit verbreiteter Irrtum. Es war eine Organisationskonferenz. Darin sind sich die Historiker inzwischen einig. Über den Hintersinn des Treffens debattieren sie aber noch 75 Jahre danach.
Natürlich, die Grundzüge sind unstrittig: Die Konferenz sollte die „Endlösung der Judenfrage“vorbereiten. Ein beispielloses Mordprogramm, das Arbeitsteilung verlangte: Heydrich hatte Vertreter aller einzubindenden „Zentralinstanzen“versammelt, darunter vier Staatssekretäre und Spitzenbeamte aus dem Auswärtigen Amt, Justiz-, Innen- und Ostministerium, Vertreter der Partei, SS und der zivilen Besatzungsbehörden. Die Konferenz entlarvt sie alle als frühe Mitwisser und Mittäter. Auf einer zweiten Ebene ging es der SS und Obergruppenführer Heydrich darum,
Reinhard Heydrich
(Bild), Chef des Reichssicherheitshauptamts, der Sicherheitspolizei und des SD war der Gastgeber. Die 14 weiteren Teilnehmer und ihre Institutionen: Josef Bühler (stv. Generalgouverneur), Roland Freisler (Reichsjustizministerium), Otto Hofmann (SSRasse- und Siedlungshauptmann), Gerhard Klopfer (ParteiKanzlei der NSDAP), Wilhelm Kritzinger (Reichskanzlei), Rudolf Lange, Eberhard Schöngarth (Sicherheitspolizei und SD) Georg Leibbrandt, Alfred Meyer (Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete), Heinrich Müller, Adolf Eichmann (RSHA), Erich Neumann (Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan), Martin Luther (Auswärtiges Amt), Wilhelm Stuckart (Reichsministerium des Inneren). ihren Führungsanspruch in der „Judenpolitik“gegen andere Behörden, etwa das Innenministerium, durchzusetzen.
Im NS-Reich gab es immer Kompetenzgerangel, mehrere Befehlsketten. Und die Judenpolitik galt Karrieristen immer als Feld zur Selbstprofilierung. Der ehrgeizige Heydrich war schon am 31. Juli 1941 von Hermann Göring mit der Vorbereitung einer „Gesamtlösung der Judenfrage auf deutschem Einflussgebiet in Europa“betraut worden. Nun setzte er sich in der Villa in Szene, und niemand zweifelte seine Führungsrolle an. Der Gipfel seiner Karriere. Der Fund. Die Welt weiß von dem Treffen wegen eines Zufallsfunds 1947. Im NS-Reich wurden Befehle oft mündlich erteilt, zahllose Akten vernichtet. Aber dieses 16. von 30 Exemplaren der Konferenz mit dem Stempel „Geheime Reichssache“überstand den Krieg. Martin Luther, Konferenzteilnehmer und Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt, war in Ungnade gefallen. Zu Kriegsende saß er im KZ. Noch heute lässt der Kontrast erschaudern: zwischen der nüchtern-sachlichen, eben bürokratischen Protokollsprache und dem Mordprogramm, das skizziert wurde. „In keinem anderen Dokument ist die Gesamtvorstellung zur Vernichtung der europäischen Juden deutlicher dargestellt worden“, erklärte der Historiker Wolfgang Scheffler einst.
Die 15 Protokollseiten sind ein Ausnahmedokument, das bestreitet auch der renommierte Historiker Peter Longerich nicht. In seinem neuen Buch rückt er die Bedeutung der Konferenz aber etwas zurecht. Hitler und sein Machtapparat hatten demnach „schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelt“. Die Konferenz war nicht der Endpunkt dieser Entwicklung, sondern eine wichtige Wegmarke. Die Protokolle sieht Longerich als „Schnappschuss“, der schlaglichtartig einen Tag in einem Prozess erhellt, der großteils im Dunklen liege. Massenmord. Das Treffen war auch nicht das Fanal für das Massenmorden. Es hatte längst begonnen. Schätzungen zufolge wurden bis Ende 1941 bereits 500.000 Juden systematisch getötet – in Serbien, im besetzten Polen, aber vor allem in der Sowjetunion. Der im Juni 1941 gestartete Ostfeldzug gegen den „jüdisch-bolschewistischen Untermenschen“trug von Beginn an rassistische Züge, er war ein weiterer Radikalisierungsschub. Mitte September leitete Hitler dann die nächste schicksalsschwere Wende ein: Er ordnete den Beginn der Deportationen „reichsdeutscher Juden“an. Der Sieg über die Sowjetunion würde nicht mehr abgewartet. Erste Züge mit Juden, aus Städten wie Berlin oder Wien, fuhren gen Osten – allerdings noch immer mit dem Kalkül, diese Menschen
Es gibt einen Abgrund zwischen der schönen Villa und dem Besprechungsthema dort.