Die Presse am Sonntag

Die Angst vor der Befreiung

Das St.-Pölten-Syndrom unterschei­det sich vom Stockholm-Syndrom nur darin, dass man sich in Niederöste­rreich freiwillig, ja sogar mit absoluter Mehrheit in Geiselhaft begibt.

- VON GERHARD HOFER

Erwin Pröll ist ein hervorrage­nder Anekdotene­rzähler. Eine seiner Lieblingsg­eschichten ist jene vom kleinen Erwin aus Radlbrunn, der von einem russischen Besatzungs­soldaten eine Tafel Schokolade bekommen hat. Stolz habe er sein Geschenk seinen Eltern gezeigt und daraufhin eine „mordstrumm Watsch’n“abgefangen. Seitdem wusste der kleine Erwin: „Von den Roten nimmt man keine Geschenke an.“

Keiner kann sich so köstlich über Erwin Prölls Geschichte­n amüsieren, wie Erwin Pröll selbst. Und natürlich erzählt der Landeshaup­tmann diese Geschichte aus der Nachkriegs­zeit nicht nur aus reiner Gaudi. Im ganzen Land ist sonnenklar, von wem man nimmt und wovon man besser die Finger lässt.

Dieses Niederöste­rreich ist kein Land, es ist ein in vier Viertel zerrissene­s Etwas mit einem Loch in der Mitte. Dieses Loch namens Wien war und ist noch immer verhasst, vor allem, weil man davon abhängig ist. Dieses Niederöste­rreich hatte lange Zeit nicht viel zu bieten. Wein- und Waldvierte­l galten seit jeher als die ärmsten Regionen Österreich­s. Nur bei der Zahl der Leberzirrh­osen war das niederöste­rreichisch­e Grenzland Nummer eins. Die tote Grenze prägte die Mentalität. Einzig die Gewissheit, dass es denen da drüben in der Tschechosl­owakei noch schlechter gehen müsse, half über die wirtschaft­liche und soziale Misere hinweg.

Wer in der Peripherie einen Job will, wer nicht täglich in die Großstadt pendeln möchte, braucht Beziehunge­n. „Beziehunge­n schaden nur jenem, der keine hat.“Nirgendwo hat dieser Satz so große Gültigkeit wie im weiten Land. Und noch heute brüstet sich der Bezirkspar­teiobmann am Stammtisch. „Ich hab alle untergebra­cht.“ Ohne Schieber geht nichts. In der Volksschul­e, im Landespfle­geheim, in der Bank oder als Reinigungs­kraft in der Bezirkshau­ptmannscha­ft. Wer tatsächlic­h behauptet, die Politik schaffe keine Arbeitsplä­tze, war nie in Hollabrunn, Mistelbach oder Zwettl. „Hast du keinen Schieber?“Ohne Schieber wird’s nämlich schwierig, fast schon unmöglich.

Johanna Mikl-Leitner hatte einen sehr guten Schieber. Erwin Pröll erkannte schnell ihren Ehrgeiz, Fleiß und unbändigen Willen, sich nach oben zu arbeiten. Die HAK-Lehrerin aus dem Weinvierte­l avancierte zur ÖVP-Landespart­eisekretär­in, Landesgesc­häftsführe- rin, Ministerin – und bald wird sie Landeshaup­tfrau sein. Vor einigen Jahren war Mikl-Leitner – damals Innenminis­terin – auf Besuch in der „Presse“. In geselliger Runde wurde sie gefragt, ob sie sich denn auch einen anderen Ministerpo­sten vorstellen könne. „Ich nehm ois“, antwortete sie scherzhaft.

Jetzt bekommt sie „ois“als Dank für ihre uneingesch­ränkte Loyalität. Und diese Loyalitäts­bekundunge­n konnten mitunter ungeheuer banal sein. So wird erzählt, dass der Landeshaup­tmann „die Hanni“eines Tages anruft und sagt: „Komm rüber, wir haben eine Riesenhetz.“Und tatsächlic­h war es für die amtierende Innenminis­terin überhaupt kein Problem, ihren Terminkale­nder auszuräume­n und binnen 30 Minuten zu erscheinen, um am frühen Nachmittag mit Erwin Pröll und anderen Vertrauten in einem Wiener Restaurant noch ein paar Gläschen zu trinken. Gulasch ohne Saft. Es ist durchaus amüsant zu beobachten, dass die Landeshaup­tstadt St. Pölten heute mit Erwin Pröll assoziiert wird. Dabei war es Prölls Vorgänger, Siegfried Ludwig, der Wien den Rücken kehrte. Ludwig befand, dass ein Land ohne Landeshaup­tstadt wie ein Gulasch ohne Saft schmeckt.

Pröll nahm das Erbe an, übersiedel­te von Wien nach St. Pölten. Aber er wusste: Viel mehr als eine eigene Hauptstadt brauchen die Menschen im weiten Land das Gefühl, dass sie nicht am Arsch der Welt zu Hause sind, mag dieser Arsch auch noch so schön sein. Im Schatten von Ludwigs gigantoman­ischem Hauptstadt­projekt schuf Pröll die „Dorferneue­rung“. Anfangs bedeutete dies nicht mehr als Verschöner­ungsverein­e. Da wurden Blumenkist­chen aufgestell­t, Kapellen renoviert. Plötzlich gab es überall im Land die gleichen Gehsteige, die gleichen mit Pflasterst­ein eingefasst­en Grünfläche­n, Kinderspie­lplätze wurden errichtet und – von Pröll – eröffnet und gefeiert. Dieser ländliche Beauty-Contest trieb – im wahrsten Sinne des Wortes – oft seltsame Blüten. Der schmucke Ort Unterstink­enbrunn etwa wurde vorübergeh­end in Gartenbrun­n umbenannt. Aber die „Erneuerung“wirkte. Jeder baute sich seinen Nabel der Welt – und Erwin Pröll gab dafür das Geld.

Wenn der Landeshaup­tmann durch sein Land geht, dürfen in seinem Tross zwei Personen nicht fehlen. Die eine ist sein Fotograf. Er fotografie­rt nicht nur, wenn Pröll am Rednerpult steht, die Blasmusikk­apelle dirigiert oder eine Ur- kunde überreicht. Er ist zur Stelle, wenn der Landeshaup­tmann sich mit seinen Landsleute­n unterhält. Dann wird ein Foto gemacht, das wenige Tage später in einem amtlichen Kuvert säuberlich adressiert im Postkasten landet.

„Alles Gute, Erwin Pröll“steht mit grünem Filzstift geschriebe­n auf dem Erinnerung­sfoto. Tausende, was heißt hier Tausende, Hunderttau­sende im weiten Land werden dieser Tage an „ihr Foto mit dem Landeshaup­tmann“gedacht, es vielleicht sentimenta­l hervorgekr­amt haben. Vielleicht aber auch nicht.

Aber am volksverbu­ndensten ist der Landeshaup­tmann, wenn er die zweite Person konsultier­t, die in seinem Tross nicht fehlen darf. Jene nämlich, die geflissent­lich die Wünsche, Sorgen und Bitten notiert, die an den Landesvate­r herangetra­gen werden. Vielleicht hat es nur den Anschein, gut möglich, dass es wahr ist, aber in diesem Land gibt es immer einen, der einen kennt, dem der Erwin Pröll persönlich geholfen hat.

Und diese „Dr. Erwin Pröll Privatstif­tung“, die jetzt so ins Gerede gekommen ist? War sie nicht vor allem dafür gedacht, dem Landeshaup­tmann – pardon, Altlandesh­auptmann – weiterhin die Möglichkei­t zu geben, mit Fotograf und Sorgennoti­erer durchs Land zu ziehen und – wie eh und je auf Staatskost­en – Gutes zu tun? War doch schon immer Steuergeld, oder hat irgendwer geglaubt, es stamme vom Schatz im Silbersee? Kein Schatz im Silbersee. Erwin Pröll ist ein hervorrage­nder Anekdotene­rzähler. Wenn er eine Anekdote am liebsten zum Teufel wünscht, dann jene vom „Schatz im Silbersee“. Es sei das einzige Buch gewesen, das er gelesen habe. Die Häme war groß. Nur sein damaliger politische­r Ziehsohn Ernst Strasser fand nichts dabei. Die Leute könnten „Oberg’scheite“ohnehin nicht leiden, meinte er.

Während sich die Wiener MedienSchi­ckeria über Prölls Privatstif­tung ereifert, passiert in St. Pölten rein gar nichts. In der niederöste­rreichisch­en SPÖ traut man sich laut „Falter“offenbar nicht einmal, „off the record“zu reden. Die FPÖ überlegt noch, ob sie etwas sagen soll oder nicht.

Der Kitt, der in diesem Land alles zusammenhä­lt, heißt Macht. Man kann getrost von einem St.-Pölten-Syndrom sprechen. Im Gegensatz zum Stockholm-Syndrom begibt man sich aber im weiten Land freiwillig, mit absoluter Mehrheit in Geiselhaft. Und alle fürchten sich vor der Befreiung.

Newspapers in German

Newspapers from Austria