Von Kunstreitern, Kaiserlogen und falschen Kannibalen
Es begann im 18. Jahrhundert mit Tierhatzen und den Übungen von Kavalleristen, es endete beim Gesamtkunstwerk: In der Geschichte des Zirkus vermengen sich hoch ästhetische Artistik und grausamer Voyeurismus.
lande ohne das Erlebnis eines Zirkusbesuchs aufwachsen.
Wie geht es weiter, wenn überhaupt? Es gibt erfolgreiche Varianten am Rand: das Variete,´ Pferdespektakel wie „Appassionata“oder die beliebten Dinnershows (die erste startete Roncalli mit Starkoch Witzigmann, heute gibt es davon 25). Aber für den klassischen Zirkus bleibt selbst ein leidenschaftlicher Fan wie Helmut Grosscurth nüchtern realistisch: Ein paar Große werden überleben und sich weiter ausdifferenzieren, „aber für den Mittelbau wird es schwer“, sagt der Leiter der European Circus Association. Chancen sieht er auch für „winzige“Anbieter, die sich „mit viel Liebe“auf eine eng abgesteckte Region und ihr Stammpublikum beschränken – wie der Familienzirkus Pikard in Niederösterreich.
Für die Zukunft braucht es aber mehr: „Wir warten auf etwas von der Sorte Roncalli oder Cirque.“Auf etwas, das „aus einer spinnerten Idee entsteht“und sich dann groß etabliert. Aufhorchen lassen Junge Wilde aus Frankreich, wo der Zirkus gerade „eine Renaissance erlebt“. Es sind Absolventen der renommierten französischen Zirkusschulen, „die alle sehr kreativ sind und etwas Neues machen wollen“, aber bei den Etablierten „keinen Anschluss finden“. Sie suchen aber auch nicht das große Publikum und bilden daher bisher noch eine „getrennte Gegenwelt“.
Allen neuen Ansätzen aber ist eines gemeinsam: Ihr Zielpublikum sind nicht die Kinder. Was Grosscurth Sorgen macht: „Der klassische Zirkus hat immer davon gelebt, ganze Familien zu erreichen.“Mag sein, dass es dazu nicht unbedingt dressierte Wildtiere braucht. Aber wohl sicher Clowns, und zwar jene wahren Meister ihres Fachs, die Kinder wie Erwachsene gleichermaßen zum Lachen bringen. Vielleicht also sind es die roten Pappnasen, die über die Zukunft des Zirkus entscheiden – damit der Glanz der Manege nicht ganz verblasst. Wenn die Wiener etwas wirklich lustig finden, dann haben sie eine Hetz. Das Wort hat aber einen ziemlich unlustigen Ursprung: In der heutigen Hetzgasse im dritten Bezirk stand im 18. Jahrhundert ein hölzernes Amphitheater, wo Löwen, Panther und Bären aufeinandergehetzt wurden. Als dieses „Hetztheater“1796 abbrannte, verweigerte Kaiser Franz II eine neue Bewilligung für den grausamen Spaß.
An diesen Vorläufer des Zirkus erinnern sich seine Fans nicht gern. Lieber verweisen sie auf den offiziellen Ursprung ihrer Leidenschaft: die englische Reitkunst. Wenn die Soldaten mit ihren Pferden Schrittfolgen übten, sahen die Zaungäste begeistert zu. Die Kavalleristen, nicht faul, nahmen ihr Käppi und sammelten Geld ein. So entstand die Kunstreiterei als Geschäftsidee. Um bei ihren akrobatischen Dressuren die Zentrifugalkraft zu nutzen, ritten die Artisten in einem aus Brettern gezimmerten Kreis – auf Englisch: Circus. Zum Vater des klassischen Zirkus wurde Philip Astley, der ab 1770 in London ein Theater ohne Worte inszenierte, bei dem Pferde aktuelle Ereignisse und Geschichten nachstellten.
Die Truppen trieb es in die Welt hinaus – auch nach Wien. Das Gasthaus „Zum Englischen Reiter“im Wurstelprater erinnert daran. Den Anfang machte ein Engländer im Hetztheater. 1808 baute der Kurländer Christoph de Bach auf der – noch heute so genannten – Zirkuswiese im Prater den hölzernen Circus gymnasticus, ein elegantes Gebäude für 3000 Besucher. Die Vorführungen mussten am Nachmittag stattfinden, um den Theatern nicht Konkurrenz zu machen. Das Publikum war oft dasselbe. Denn die neue Form der Unterhaltung hatte ein gutes Image, das näher bei der Spanischen Hofreitschule als bei Jahrmarktsbuden lag. Bis zur Jahrhundertwende gab es dafür in Wien sieben fest gebaute, überdachte Etablissements. Jedes hatte seine Kaiserloge (die exzellente Reiterin Sissi war seit ihrer Jugend in den Zirkus vernarrt). Erst mit der Zeit kamen andere Elemente hinzu: Orchester, Trapezkünstler, Jongleure. Um das Publikum in den Pausen für Umbauten bei Laune zu halten, setzte man Spaßmacher ein. Die Clowns gehen auf Mysterienspiele und die italienische Commedia dell’Arte zurück. Erst mit der Kolonialzeit gesellten sich auch exotische Tiere dazu, die man nun nicht mehr aufeinanderhetzte, sondern kunstvoll dressierte. Freaks und Primitive. Wie leider auch Eingeborene aus den Kolonialstaaten. Sie wurden dem Publikum wie Tiere im Zoo vorgeführt: Gegen spärliches Entgelt sollten ganze Familien den Alltag ihrer „primitiven“Kultur nachstellen. Oft in eigenen „Völkerschauen“, aber auch im Zirkus. Dabei wurden Klischees meist zementiert. So stellte man friedliche Feuerländer als Kannibalen dar, die zwischen inszenierten Kämpfen und Kriegstänzen rohes Fleisch essen mussten. Auch missgestalte Einheimische konnte das Zirkuspublikum begaffen – wovon der Ausdruck „Freakshow“erhalten blieb.
1890 gastierte eine Wildwestshow namens Buffalo Bill im Prater. Sie brachte eine Innovation mit: große Zeltplanen, die im Amerikanischen Bürgerkrieg den Kanonen und Pferden Schutz geboten hatten. Das war der Startschuss für den Wanderzirkus, der den Zauber der Manege bis in entlegene Dörfer brachte. Aber seit der Zwischenkriegszeit ging es langsam bergab. Im Krieg brannten alle Wiener Zirkusgebäude ab. Das Kino machte Konkurrenz, später kamen Fernsehen und Fernreisen dazu. Wer schon auf Fotosafari in Kenia war, staunt nicht mehr über dressierte Tiger und Elefanten.
Um die Zentrifugalkraft zu nutzen, ritten die Artisten im Kreis – auf Englisch: Circus. Während der Umbauten musste man das Publikum bei Laune halten – durch Clowns.
Heute kämpft der Zirkus auch gegen die Vorwürfe von Tierschutzaktivisten, die in einigen EU-Staaten – auch in Österreich – ein Wildtierverbot durchsetzen konnten. Neue Wege beschreitet seit den 1970er-Jahren die Form des „Cirque Nouveau“, zu dem auch Roncalli und Cirque du Soleil gehören: An die Stelle von bezugslos aneinandergereihten Nummern, die ein Zirkusdirektor als Conferencier´ ansagt, tritt eine durchinszenierte Show mit einem Leitmotiv oder Handlungsfaden. Im Idealfall fügen sich Artistik, Musik, Licht und Kostüme zum Gesamtkunstwerk. Ob es nun nostalgisch, glamourös oder feinsinnig ironisch ausfällt: Es hat dem Zirkus neue Perspektiven und Zielgruppen eröffnet.