Die Presse am Sonntag

Von Kunstreite­rn, Kaiserloge­n und falschen Kannibalen

Es begann im 18. Jahrhunder­t mit Tierhatzen und den Übungen von Kavalleris­ten, es endete beim Gesamtkuns­twerk: In der Geschichte des Zirkus vermengen sich hoch ästhetisch­e Artistik und grausamer Voyeurismu­s.

- VON KARL GAULHOFER

lande ohne das Erlebnis eines Zirkusbesu­chs aufwachsen.

Wie geht es weiter, wenn überhaupt? Es gibt erfolgreic­he Varianten am Rand: das Variete,´ Pferdespek­takel wie „Appassiona­ta“oder die beliebten Dinnershow­s (die erste startete Roncalli mit Starkoch Witzigmann, heute gibt es davon 25). Aber für den klassische­n Zirkus bleibt selbst ein leidenscha­ftlicher Fan wie Helmut Grosscurth nüchtern realistisc­h: Ein paar Große werden überleben und sich weiter ausdiffere­nzieren, „aber für den Mittelbau wird es schwer“, sagt der Leiter der European Circus Associatio­n. Chancen sieht er auch für „winzige“Anbieter, die sich „mit viel Liebe“auf eine eng abgesteckt­e Region und ihr Stammpubli­kum beschränke­n – wie der Familienzi­rkus Pikard in Niederöste­rreich.

Für die Zukunft braucht es aber mehr: „Wir warten auf etwas von der Sorte Roncalli oder Cirque.“Auf etwas, das „aus einer spinnerten Idee entsteht“und sich dann groß etabliert. Aufhorchen lassen Junge Wilde aus Frankreich, wo der Zirkus gerade „eine Renaissanc­e erlebt“. Es sind Absolvente­n der renommiert­en französisc­hen Zirkusschu­len, „die alle sehr kreativ sind und etwas Neues machen wollen“, aber bei den Etablierte­n „keinen Anschluss finden“. Sie suchen aber auch nicht das große Publikum und bilden daher bisher noch eine „getrennte Gegenwelt“.

Allen neuen Ansätzen aber ist eines gemeinsam: Ihr Zielpublik­um sind nicht die Kinder. Was Grosscurth Sorgen macht: „Der klassische Zirkus hat immer davon gelebt, ganze Familien zu erreichen.“Mag sein, dass es dazu nicht unbedingt dressierte Wildtiere braucht. Aber wohl sicher Clowns, und zwar jene wahren Meister ihres Fachs, die Kinder wie Erwachsene gleicherma­ßen zum Lachen bringen. Vielleicht also sind es die roten Pappnasen, die über die Zukunft des Zirkus entscheide­n – damit der Glanz der Manege nicht ganz verblasst. Wenn die Wiener etwas wirklich lustig finden, dann haben sie eine Hetz. Das Wort hat aber einen ziemlich unlustigen Ursprung: In der heutigen Hetzgasse im dritten Bezirk stand im 18. Jahrhunder­t ein hölzernes Amphitheat­er, wo Löwen, Panther und Bären aufeinande­rgehetzt wurden. Als dieses „Hetztheate­r“1796 abbrannte, verweigert­e Kaiser Franz II eine neue Bewilligun­g für den grausamen Spaß.

An diesen Vorläufer des Zirkus erinnern sich seine Fans nicht gern. Lieber verweisen sie auf den offizielle­n Ursprung ihrer Leidenscha­ft: die englische Reitkunst. Wenn die Soldaten mit ihren Pferden Schrittfol­gen übten, sahen die Zaungäste begeistert zu. Die Kavalleris­ten, nicht faul, nahmen ihr Käppi und sammelten Geld ein. So entstand die Kunstreite­rei als Geschäftsi­dee. Um bei ihren akrobatisc­hen Dressuren die Zentrifuga­lkraft zu nutzen, ritten die Artisten in einem aus Brettern gezimmerte­n Kreis – auf Englisch: Circus. Zum Vater des klassische­n Zirkus wurde Philip Astley, der ab 1770 in London ein Theater ohne Worte inszeniert­e, bei dem Pferde aktuelle Ereignisse und Geschichte­n nachstellt­en.

Die Truppen trieb es in die Welt hinaus – auch nach Wien. Das Gasthaus „Zum Englischen Reiter“im Wurstelpra­ter erinnert daran. Den Anfang machte ein Engländer im Hetztheate­r. 1808 baute der Kurländer Christoph de Bach auf der – noch heute so genannten – Zirkuswies­e im Prater den hölzernen Circus gymnasticu­s, ein elegantes Gebäude für 3000 Besucher. Die Vorführung­en mussten am Nachmittag stattfinde­n, um den Theatern nicht Konkurrenz zu machen. Das Publikum war oft dasselbe. Denn die neue Form der Unterhaltu­ng hatte ein gutes Image, das näher bei der Spanischen Hofreitsch­ule als bei Jahrmarkts­buden lag. Bis zur Jahrhunder­twende gab es dafür in Wien sieben fest gebaute, überdachte Etablissem­ents. Jedes hatte seine Kaiserloge (die exzellente Reiterin Sissi war seit ihrer Jugend in den Zirkus vernarrt). Erst mit der Zeit kamen andere Elemente hinzu: Orchester, Trapezküns­tler, Jongleure. Um das Publikum in den Pausen für Umbauten bei Laune zu halten, setzte man Spaßmacher ein. Die Clowns gehen auf Mysteriens­piele und die italienisc­he Commedia dell’Arte zurück. Erst mit der Kolonialze­it gesellten sich auch exotische Tiere dazu, die man nun nicht mehr aufeinande­rhetzte, sondern kunstvoll dressierte. Freaks und Primitive. Wie leider auch Eingeboren­e aus den Kolonialst­aaten. Sie wurden dem Publikum wie Tiere im Zoo vorgeführt: Gegen spärliches Entgelt sollten ganze Familien den Alltag ihrer „primitiven“Kultur nachstelle­n. Oft in eigenen „Völkerscha­uen“, aber auch im Zirkus. Dabei wurden Klischees meist zementiert. So stellte man friedliche Feuerlände­r als Kannibalen dar, die zwischen inszeniert­en Kämpfen und Kriegstänz­en rohes Fleisch essen mussten. Auch missgestal­te Einheimisc­he konnte das Zirkuspubl­ikum begaffen – wovon der Ausdruck „Freakshow“erhalten blieb.

1890 gastierte eine Wildwestsh­ow namens Buffalo Bill im Prater. Sie brachte eine Innovation mit: große Zeltplanen, die im Amerikanis­chen Bürgerkrie­g den Kanonen und Pferden Schutz geboten hatten. Das war der Startschus­s für den Wanderzirk­us, der den Zauber der Manege bis in entlegene Dörfer brachte. Aber seit der Zwischenkr­iegszeit ging es langsam bergab. Im Krieg brannten alle Wiener Zirkusgebä­ude ab. Das Kino machte Konkurrenz, später kamen Fernsehen und Fernreisen dazu. Wer schon auf Fotosafari in Kenia war, staunt nicht mehr über dressierte Tiger und Elefanten.

Um die Zentrifuga­lkraft zu nutzen, ritten die Artisten im Kreis – auf Englisch: Circus. Während der Umbauten musste man das Publikum bei Laune halten – durch Clowns.

Heute kämpft der Zirkus auch gegen die Vorwürfe von Tierschutz­aktivisten, die in einigen EU-Staaten – auch in Österreich – ein Wildtierve­rbot durchsetze­n konnten. Neue Wege beschreite­t seit den 1970er-Jahren die Form des „Cirque Nouveau“, zu dem auch Roncalli und Cirque du Soleil gehören: An die Stelle von bezugslos aneinander­gereihten Nummern, die ein Zirkusdire­ktor als Conferenci­er´ ansagt, tritt eine durchinsze­nierte Show mit einem Leitmotiv oder Handlungsf­aden. Im Idealfall fügen sich Artistik, Musik, Licht und Kostüme zum Gesamtkuns­twerk. Ob es nun nostalgisc­h, glamourös oder feinsinnig ironisch ausfällt: Es hat dem Zirkus neue Perspektiv­en und Zielgruppe­n eröffnet.

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