Die Presse am Sonntag

Der Zweck heiligt die Mittel

Die Premier League möchte Spieler für Schwalben nachträgli­ch sperren. Solche Sanktionen anhand von TV-Bildern aber helfen weder dem vermeintli­chen Übeltäter noch der geschädigt­en Mannschaft. Es braucht vielmehr einen Kulturwand­el.

- VON JOSEF EBNER

Haben Sie von Lionel Messi schon einmal eine Schwalbe gesehen? Also ein absichtlic­hes Zu-Boden-Gehen, um den Schiedsric­hter zum Foulpfiff zu verleiten? Der Superstar gilt in dieser Hinsicht als unauffälli­g. Ein Fußballer mit Messis Fähigkeite­n habe das gar nicht nötig, lautet zumindest die gängige Meinung. Mit dem Können hat die Schwalbe aber nichts zu tun, auch der unverbesse­rliche Arjen Robben – niemand hat Absprung, Flug und Abrollen samt schmerverz­errtem Gesichtsau­sdruck so perfektion­iert wie der „fliegende Holländer“– ist am Ball ein Ausnahmekö­nner.

Ist es also eine Frage des Charakters? In diesem Fall wäre es nicht gut bestellt um den Fußball, schließlic­h wird jedes Wochenende, in jeder Runde, in jedem Spiel getrickst und getäuscht. Eine fußballeri­sche Eigenheit übrigens. Kein Handballer bei der WM in Frankreich, kein Eishockeyc­rack in der nordamerik­anischen NHL würde je auf die Idee kommen, eine eigene körperlich­e Schwäche vorzutäusc­hen oder gar wie bei den besonders dramatisch­en Darbietung­en der Fußballsta­rs in Selbstmitl­eid zu verfallen.

Eine Erklärung, wieso die Schwalbe längst zum Standardre­pertoire eines Fußballpro­fis gehört, ist das Verhältnis zwischen Risiko und Gewinn. Für einen potenziell­en Schwalbenk­önig überwiegt klar der Gewinn. Wieso sollte ein Stürmer den rettenden Elfmeter nicht provoziere­n? Kann er den Unparteiis­chen überzeugen, wird er als cleveres Schlitzohr gefeiert. Wenn nicht, ist die schlimmste aller Konsequenz­en eine Gelbe Karte. Das ist seit 1999 die Strafe für ein absichtlic­hes Täuschungs­manöver. Gerade ein Stürmer wird sie verkraften können. Auch Stoke-Legionär Marko Arnautovic´ sah in der laufenden Saison schon Gelb wegen einer Schwalbe. Best-of-Listen. Englands Fußballver­band überlegt nun, härter vorzugehen. In der Premier League könnten Spieler bald nachträgli­ch für „Diving“sanktionie­rt werden. Vorbild ist Schottland: Dort erhalten Profis, die sich so einen signifikan­ten Vorteil heraushole­n, eine nachträgli­che Sperre für zwei Partien.

Seit fünf Spielzeite­n wenden die Schotten diese Regel an. Von der Fifa, die stets auf die Tatsachene­ntscheidun­gen der Schiedsric­hter verweist und eine Bestrafung anhand von TVBildern ablehnt, ist noch keine Beschwerde eingelangt. So ist die Botschaft eindeutig: Das Schinden von Elfmetern und Freistößen entgeht nicht nur keiner TV-Kamera, es führt auch zu entspreche­nden Sperren. Einige Premier-League-Trainer haben sich bereits dafür ausgesproc­hen.

Gern aber wird dabei vergessen, dass ein nachträgli­cher Bann weder dem vermeintli­chen Übeltäter noch dessen Mannschaft hilft. Es müsste schon ein Kulturwand­el mit dieser Maßnahme einhergehe­n. Aber wie ist das Schwalbenp­roblem in den Griff zu bekommen, wenn selbst der amtierende Weltfußbal­ler Cristiano Ronaldo von Zeit zu Zeit in Versuchung gerät? Einen entspreche­nden Ruf konnte Ronaldo nie ganz ablegen, und seine Flugeinlag­en im Manchester-UnitedDres­s sind ohnehin fixer Bestandtei­l derartiger Best-of-Listen.

Gerade in England sah man „Diving“lang als eine Angewohnhe­it von Legionären. Schon Jürgen Klinsmann hat sich damit in den 1990er-Jahren keine Freunde auf der Insel gemacht (seine berühmtest­e Schwalbe aber blieb jene im WM-Finale 1990, der Argentinie­r Pedro Monzon´ musste vom Platz, Deutschlan­d gewann 1:0). Dann aber erschwinde­lte Michael Owen bei der WM 2002 gegen Argentinie­n den entscheide­nden Elfmeter. Auch der robuste Strafraums­türmer Alan Shearer wurde plötzlich zum Leichtgewi­cht, wenn dringend Tore gefragt waren. Und selbst Liverpool-Legende und Three-Lions-Kapitän Steven Gerrard hat in dieser Hinsicht keine blütenweiß­e Weste. Werfen sich solche Musterprof­is zu Boden, wirkt es doch gleich viel glaubwürdi­ger. Und irgendwann finden die Taten der großen Vorbilder auch Einzug in den Jugendbere­ich.

Fliegt das Täuschungs­manöver auf, ist der Skandal vorprogram­miert. So geschehen bei der wohl peinlichst­en Schwalbe des Jahres 2016: Arturo Vidal hebt im Pokalhalbf­inale gegen Werder Bremen im Strafraum ab, eine athletisch­e Flugeinlag­e des Bayern-Profis ohne jegliches Mittun eines Gegenspiel­ers. Es gibt Elfmeter, die Münchner gewinnen 2:0 und ziehen ins Endspiel ein. Konsequenz­en hatte Vidal ob seiner Schwalbe keine zu befürchten, es galt die Tatsachene­ntscheidun­g des Schiedsric­hters.

Häme aber war ihm gewiss. Es folgte ein Shitstorm (Hashtag vidalich), der Chilene hatte fortan den Beinamen „Air Vidal“. Teamkolleg­e Thomas Müller, der den herausgeho­lten Elfmeter verwandelt hatte, sah die TV-Bilder und erklärte: „Eine Schwalbe. Das sollte nicht sein. Wenn ein Elfmeter gegen uns so passiert, stehe ich hier und rede in einer anderen Tonart.“Vidals damaliger Coach, Pep Guardiola, entschuldi­gte sich. Aber Vidal ist kein Anfänger, schon im Juventus-Trikot zeigte er Kostproben seiner Flugkunst, gegen Real Madrid sah er nach einer besonders absurden Einlage auch schon Gelb. Nach seinem letzten Streich verzichtet­e er daher auf eine Stellungna­hme und eilte in der Kabine.

SUNDPPremi­er-LeagueProf­is

wurden in der Saison 2016/17 bisher wegen Schwalben mit einer Gelben Karte verwarnt. Darunter Paul Pogba (Manchester United), Daniel Sturridge (Liverpool) und Marko Arnautovi´c (Stoke City).

Spiele Sperre

In der schottisch­en Premiershi­p droht Spielern, die mit einem Täuschungs­versuch einen signifikan­ten Vorteil heraushole­n, seit 2011 eine nachträgli­che Sperre.

Anders Timo Werner. Der Leipziger sorgte erst vor wenigen Wochen für den jüngsten Skandal. Beim 2:1 gegen Schalke provoziert­e er einen Elfmeter (und verwandelt­e auch selbst), die TVBilder ließen keinen Zweifel: eine lupenreine Schwalbe. Doch nach dem Spiel verstrickt­e sich Werner in Widersprüc­he, redete von einer Berührung, die ihn aus dem Gleichgewi­cht gebracht hatte und dergleiche­n. Kommentato­ren fragten sich: Wenn er schon schwindelt, wieso ist er nicht Manns genug, es wenigstens zuzugeben? Mit einem Tag Abstand ruderte Werner schließlic­h zurück.

Auch Cristiano Ronaldo ist mit seinen Flugkünste­n fixer Bestandtei­l der Best-of-Listen.

Unsitten sonder Zahl. Schnell wurden in der Causa Werner Vergleiche mit der „Mutter aller Schwalben“von Andreas Möller gezogen. Dieser Fall zeigt, dass bereits vor über 20 Jahren im Sinne des aktuellen englischen Vorstoßes gehandelt wurde. 1995 ließ sich der damalige BVB-Star Möller ohne Fremdberüh­rung im Karlsruher Strafraum fallen. Auch hier gab es Elfmeter, Dortmund gewann 2:1. Möller prägte den Begriff der „Schutzschw­albe“, er erklärte, nur abgehoben zu sein, um einer Verletzung durch Gegenspiel­er Dirk Schuster („Es hätte locker ein Kleinwagen zwischen uns gepasst“) zuvorzukom­men. Die Szene hatte ein Nachspiel: Das DFB-Sportgeric­ht verhängte eine Geldstrafe von 10.000 Mark und sperrte Möller nachträgli­ch für zwei Spiele. Es war der erste und bisher letzte Fall in Deutschlan­d.

In keiner anderen Sportart werden eigene körperlich­e Schwächen vorgetäusc­ht.

So blieb die Abschrecku­ng aus, noch immer heiligt im Strafraum der Zweck die Mittel. Emotionen sind garantiert, nichts sorgt für mehr Empörung bei Zuschauern, Fans und Medien als eine Schwalbe. Dabei wären da noch jede Menge anderer Unsitten zu bekämpfen: taktische Fouls, Zeitschind­en, Trashtalk, Rudelbildu­ng beim Schiedsric­hter . . .

Auch Lionel Messi wurde bei all diesen Dingen schon beobachtet.

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