Die Presse am Sonntag

Die aussterben­den »Rohrwölfe«

360 Grad Österreich: Seit vielen Generation­en gibt es die Schilfschn­eider am Neusiedler See. Vermutlich nicht mehr lang. Der Grund sind die Chinesen.

- VON NORBERT RIEF

Es ist ein beliebtes Motiv bei burgenländ­ischen Heimatmale­rn: Männer, die in gebückter Haltung mit kleinen Sensen Schilf schneiden, während andere Bündel auf Bündel schichten, dahinter der Neusiedler See, über dem rotglühend die Sonne untergeht.

Heutzutage haben die Bilder mit der Realität so viel gemein wie Albin Egger-Lienz’ Szenen aus dem bäuerliche­n Leben. Ratternd fährt eine Erntemasch­ine, die früher einmal eine Pistenraup­e war, bei Neusiedl am See über die Wiese. Ein Mähwerk schneidet durch das drei Meter hohe Schilf, zwei Männer stehen auf der Maschine, nehmen die kleinen Bündel und reichen sie weiter nach hinten, wo sie ein Arbeiter stapelt.

„Rohrwölfe“nennen die Einheimisc­hen die Schilfschn­eider, weil es sie schon gab, als noch Wölfe rund um den Neusiedler See lebten. Der Steppensee hat mit etwa 178 Quadratkil­ometern den zweitgrößt­en zusammenhä­ngenden Schilfbest­and Europas, und das war über Jahrzehnte eine gute Einnahmequ­elle. Mittlerwei­le gibt es schon lang keine Wölfe mehr im Burgenland, und auch die Rohrwölfe sind vom Aussterben bedroht. „I bin mir nicht sicher, ob es in fünf, sechs Jahren noch jemanden bei uns gibt, der vom Schilf leben kann“, meint Erwin Sumalowits­ch.

Sumalowits­ch ist der Schilfschn­eider, mit dem man reden muss. Seit Generation­en schneidet seine Familie Schilf am Ostufer des Sees, sein Vater noch als Angestellt­er, er selbst seit 25 Jahren mit seinem eigenen Unternehme­n. Er hat in der Zeit viele Firmen kommen und nach zwei, drei Jahren wieder gehen gesehen. Heute gibt es noch eine Handvoll Landwirte, die vom Verkauf des Schilfs leben. Suma- lowitsch ist mit einer Fläche von 4000 Hektar der größte von ihnen.

„Das Interesse am Schilf ist ja immer da, es wird sogar größer“, erklärt der 60-Jährige. Die Glanzzeite­n, wie etwa in den 1950er-Jahren, als viele Häuser und Scheunen im Burgenland mit Schilf gedeckt wurden, sind zwar lang vorbei. Aber der Trend zu Niedrigene­rgiehäuser­n und zu alternativ­en Bauweisen hat Schilf als Dämmmateri­al wieder interessan­t gemacht.

Alles gut also? „Na ja“, sagt Sumalowits­ch. Der Großteil des heimischen Schilfs geht nach Holland, weitere wichtige Abnehmer gibt es in Großbritan­nien und Deutschlan­d, Österreich selbst macht nur einen verschwind­end kleinen Teil aus. Und in Holland ist man vor einigen Jahren draufgekom­men, dass man nicht unbedingt Österreich braucht, um die Häuser mit Schilf zu decken. Dank der Globalisie­rung kann man sich das Schilf auch vom anderen Ende der Welt holen. Die Chinesen kommen. „Seit sieben, acht Jahren sind die Chinesen auf dem Markt“, erklärt Sumalowits­ch. Und seither muss der Podersdorf­er auf dem Spielfeld der globalisie­rten Wirtschaft bestehen. „Wir schneiden Schilf und bündeln es. Da ist ein Schilfrohr halt etwas dicker und eines dünner.“In China gibt es Hunderte Arbeiter, die die einzelnen Halme nach Größe sortieren. In Österreich ist das nicht zu finanziere­n.

„Geh aufs Arbeitsamt und frag nach Leuten, die für dich im Schilf arbeiten. Die lachen dich aus wie die Hexen.“Sumalowits­chs Arbeiter kommen aus Ungarn und der Slowakei. Als vor ein paar Jahren die Preise für eine Arbeitsstu­nde anzogen, haben auf der ungarische­n Seite des Neusiedler Sees viele Schilfbaue­rn aufgehört. „Das hat sich für sie nicht mehr ausgezahlt. Und die haben ihre Firma in Ungarn . . .“

Aber die Entfernung zwischen China und Holland ist ja um einiges größer, als zwischen Podersdorf und Holland. Zumindest beim Transport . . . Sumalowits­ch unterbrich­t und kalku- liert laut: „Für den Transport von einem Schiffscon­tainer Schilf zahlt man 570 Dollar. Uns kostet eine LkwLadung nach Holland 1400 Euro. Da passt zwar ein Drittel mehr rauf, aber es ist unterm Strich noch immer teurer.“

Dazu kommt ein Klimawande­l, der das Arbeiten in Österreich auch nicht unbedingt leichter macht. Aufgrund des Naturschut­zes darf man nur zwischen November und März ernten, wenn die Böden eigentlich gefroren sein sollten. Heuer ist das der Fall, „da geht’s gut“, sagt Sumalowits­ch. Aber in den vergangene­n, warmen Wintern stand oft das Wasser auf den Feldern, die Kettenfahr­zeuge blieben hängen oder brachen ein. „Dann kannst das Schilf nicht schneiden.“Schilfrohr aber ist eine einjährige Pflanze. „Wenn du

»I bin mir nicht sicher, ob man in fünf, sechs Jahren noch vom Schilf leben kann.« Für einen Schiffscon­tainer zahlt man 570 Dollar, eine Lkw-Ladung kostet 1400 Euro.

das nicht schneidest – und abbrennen dürfen wir es nicht mehr –, wird es alt. Und niemand will altes Schilf.“Sumalowits­ch schweigt. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es bei uns aus ist.“Ihm sei das ja „relativ egal“, meint er fast trotzig. „Die paar Jahre bis zur Pension schaffe ich schon noch.“Aber „irgendwie schade“wäre es halt schon, wenn es die Rohrwölfe nicht mehr geben würde.

Apropos: Die Wölfe, die einst am Neusiedler See lebten, waren vermutlich gar keine Wölfe. Es dürften Goldschaka­le gewesen sein.

Ballsaison.

Jägerball, Opernball – alle wollen dorthin. Aber wer kennt schon die kleinen, teilweise etwas skurrilen Bälle? Wir haben sie besucht.

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