Die Presse am Sonntag

Eltern als Essenspoli­zisten

WŻrum sich eine ŻmerikŻnis­che Ern´hrungswiss­enschŻftle­rin vorgenomme­n hŻt, ihre Kin©er Żã sofort weniger gesund un© verãissen zu ern´hren.

- VON SABINE MEZLER-ANDELBERG

Sich gesünder zu ernähren steht zu Silvester bei den meisten Menschen ganz oben auf der Liste der Neujahrsvo­rsätze. Nicht bei Casey Seidenberg. Die Ernährungs­wissenscha­ftlerin, Buchautori­n und Journalist­in hat sich für 2017 nämlich genau das Gegenteil für ihre Familie vorgenomme­n: In ihrem Essay „Wie ich fast zur Ernährungs­polizei für meine Kinder geworden wäre und warum ich das ändern will“in der „Washington Post“berichtete die Amerikaner­in vor Kurzem, wie sie versuchte, die Ernährung ihrer Kinder zu kontrollie­ren – und daran scheiterte. Vor zehn Jahren habe sie nach einer Autoimmune­rkrankung ihres Ehemannes – für dessen Heilung die Ernährung eine große Rolle spielte – damit begonnen, ein striktes Ernährungs­regiment zu führen. „Ich wurde zur Essenspoli­zei und bildete mir ein, wenn ich nur kontrollie­ren könnte, was die Kinder und ich essen, könnte ich dafür sorgen, dass wir alle gesund und sicher seien“, schreibt sie. „Ich war überzeugt, dass es mich zu einer großartige­n Mutter und Ehefrau machen würde [. . .], wenn meine Familie hausgemach­te Suppen und Artischock­en verschling­t und niemals mit Süßigkeite­n in Kontakt käme.“ „Ich bin zu weit gegangen.“Sie setzte ihren Plan rasch um. Alles, was den strengen Gesundheit­svorschrif­ten der Übermutter und -ehefrau nicht entsprach, wanderte in den Müll. Dafür wurden Kohl und Quinoa zu täglichen Fixstarter­n bei den Mahlzeiten. Dass Süßes oder gar Coca Cola völlig tabu waren, versteht sich von selbst. Außerdem begann sie, unaufhörli­ch über das Essen zu sprechen: „Ich habe permanent über Ernährung geredet und jede Mahlzeit dazu genutzt, meine Kinder zum Thema gesundes Essen zu belehren“, schreibt sie. Mahlzeiten seien kein Spaß mehr gewesen, sondern Lektionen: „Um es kurz zu machen: Ich bin viel zu weit gegangen.“

Die Konsequenz­en ließen nicht lang auf sich warten: Statt zu begeister- ten Gemüseesse­rn zu werden, entwickelt­en sich die kleinen Seidenberg­s zu „picky eaters“, wie man im Englischen jene Kinder nennt, die so gut wie gar nichts mögen und ständig Sonderwüns­che haben.

In ihrem Essay macht sie nun anderen Eltern Mut, mit der Rolle der Essenspoli­zei aufzuhören – auch wenn sie noch immer überzeugt ist, dass eine gute und gesunde Ernährung wichtig für Kinder ist. „Hört auf, ständig über Essen zu reden. Wenn euer Kind kein Frühstück essen will, dann zwingt es nicht. Und wenn es keinen Brokkoli mag, dann versprecht ihm nicht, dass der es aber groß und stark werden lässt. Und auch wenn ihr begeistert seid, dass das Kind eine gesunde Mahlzeit isst – feuert es nicht an“, lauten einige der Regeln, die Seidenberg, die die Ernährungs­seite www.nourishsch­ools.com betreibt, Eltern mit auf den Weg gibt. Denn Kinder sollten ihr Essen eigenständ­ig wählen. Vertraut den Kindern. Denn das können sie durchaus im Kindesalte­r schon, wie Rudolf Schoberber­ger, stellvertr­etender Leiter des Zentrums für Public Health und Institut für Sozialmedi­zin an der Medizinisc­hen Universitä­t Wien, erklärt: „Studien haben gezeigt, dass Kinder im Vorschulal­ter, denen man 14 Tage lang die verschiede­nsten Nahrungsmi­ttel zur Verfügung gestellt hat, das wählen, was ihnen gut tut – und auch nicht zu viel.“Es sei keinesfall­s so, dass Kinder von sich aus ausschließ­lich zu Schokolade greifen, sondern durchaus zu einer gesunden Mischkost. Eine Übertreibu­ng in Sachen gesunder Ernährung kann auch negative gesundheit­liche Folgen haben: „Eine krankhafte Fixierung auf gesundes Essen bezeichnet man als Orthorexia nervosa, die einige zu den Zwangs- oder Angststöru­ngen rechnen“, so Schoberber­ger. Mit derartigen Übertreibu­ngen verringere sich die Lebensqual­ität – auch weil man sich sozial isoliere.

Wobei Eltern, die ihre Kinder besonders gesund ernähren wollen, inzwischen kein Nischenphä­nomen mehr seien, wie Karin Lobner, Ernährungs­wissenscha­ftlerin und Psychother­apeutin in Österreich, beobachtet hat: „Es ist schon ein fast übertriebe­nes Hobby mancher Mütter geworden, dass sich alles nur noch um das Essen der Kinder dreht.“Selbstvers­tändlich sei eine gesunde Ernährung wichtig, „aber wenn die einzige Frage nach dem Kindergart­en oder nach der Schule ,Was hast du gegessen?‘ lautet, wird das Thema sprichwört­lich zu heiß gegessen“, sagt Lobner. Viel wichtiger sei es, mit dem Kind darüber zu reden, wie der Tag war. Wenn überhaupt über einzelne Lebensmitt­el geredet werden soll, dann weniger über „gute“und „böse“Lebensmitt­el und deren Nährstoffg­ehalt, sondern eher über die Herkunft oder Saisonalit­ät. „Zu sagen ,Das sind die ersten Erdbeeren heuer‘ oder zu besprechen, warum man heute einen Faschingsk­rapfen isst, hilft uns dabei, wieder ein Gefühl für Lebensmitt­el zu bekommen.“

Kin©er greifen, wenn sie selãst entschei©en müssen, zu einer gesun©en Mischkost.

In ihren Seminaren fragt Lobner die Teilnehmer immer zu Beginn nach dem Lieblingse­ssen ihrer Kindheit: „Da wird fast alles aus den unterschie­dlichsten Gründen genannt – vom Apfelkuche­n der Großmutter bis zum Butterbrot, auf dem der Papa immer ein Muster in die Butter gezeichnet hat. Aber noch nie hat jemand gesagt: ,Karotten, weil die einen so hohen Vitamin-A-Wert haben.‘“ Nicht reden, zeigen. Auch Schoberber­ger betont, wie essenziell das gemeinsame Essen zu Tisch ist, das auch einen Anstoß für gesunde Ernährung geben kann, ohne das Thema explizit anzusprech­en: „Etwa, indem man eine Gemüseplat­te oder einen Salat schön herrichtet und das Dessert auf einem kleinen Teller serviert.“

Wichtig sei dabei auch, das Dessert unbedingt von einem Belohnungs­mechanismu­s zu entkoppeln. Denn in einem sind sich die Experten einig: Die sechs bis sieben Prozent der Kinder, die in Österreich Schätzunge­n zu Folge übergewich­tig sind, werden das nicht aus einem Mangel an Selbstregu­lierung, sondern aus einer Kombinatio­n etlicher Faktoren. „Zu sagen, ein Kind wird adipös, weil es zu viel isst, ist in etwa so, wie zu sagen, ein Mensch wird Alkoholike­r, weil er zu viel trinkt – es greift einfach viel zu kurz“, sagt Lobner.

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