Die Presse am Sonntag

Es war einmal ein Siegfried, der endlich sein

Zum 200. Geburtstag von Rossinis »La Cenerentol­a«: eine Bestandsau­fnahme der Märchenope­rn, die es zu dauerhafte­m Ruhm brachten – von der barocken Feenkönigi­n bis zum experiment­ellen »Mädchen mit den Schwefelhö­lzchen«.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Das Märchenerz­ählen gehört laut Unesco sogar zum immateriel­len Kulturerbe der Menschheit. Das Erbe wird eher indirekt gepflegt, in Filmen, in Balletten, aber auch in der Oper – wiewohl es weniger echte Märchenope­rn gibt, als man meinen möchte.

Gioacchino Rossinis „La Cenerentol­a“, die demnächst 200 wird, ist natürlich eine Märchenope­r par excellence. Wie die wunderbare, leider wenig bekannte Vertonung desselben Stoffes durch Jules Massenet. Das Publikum kennt die Geschichte genau. Nur der Schuh, den die schöne junge Dame beim Davonlaufe­n aus dem Schloss auf der Treppe verliert, ist durch ein Armband ersetzt worden. Als nur noch gelesen wurde. Sonst ähnelt die Geschichte jener, die in Frankreich Perault,´ in unseren Breiten die Brüder Grimm erzählten. Mit der mündlichen Tradierung war es nach dem Erscheinen der populären Mär- chenanthol­ogien dann bald vorbei. An die Stelle der mündlich überliefer­ten Märchenher­rlichkeit samt ihren bunten und wohl zum Teil besonders gruseligen Ausschmück­ungen trat das Schaudern in den Opernhäuse­rn. Dort feierten bald märchenhaf­te Gespenster­geschichte­n fröhliche Urständ.

Den „Freischütz“haben wir aus jener Epoche noch geerbt, einen Grenzgänge­r, nicht dem reinen Märchentyp­us zuzuordnen, wie etwa die Geschichte von der Wassernixe „Undine“, die ein Meister der Poesie auf den Text eines anderen komponiert­e: E. T. A. Hoffmann bat den ein Jahr jüngeren Friedrich de la Motte Fouque,´ aus seinem schönen Kunstmärch­en selbst einen Operntext werden zu lassen.

Die Zusammenar­beit der romantisch­en Dichterfür­sten endete zumindest dramaturgi­sch nicht glücklich. Der stets zynische Hans Pfitzner meinte über Fouque:´ „Sieht man sich diesen teutschen Operntext an, so fällt einem zunächst auf, was für ein genialer Kerl – Lortzing war.“Besagter Gustav Albert Lortzing hatte eine viel bessere „Undine“gedichtet und komponiert. An sein theatralis­ches Geschick glauben aber leider unsere Opernhäuse­r nicht mehr – „Undine“gab man zuletzt, stark gekürzt, als „Kinderoper“.

Das scheint das Schicksal aller Märchenope­rn zu sein. Nicht anders erging es ja Richard Wagners frühem Versuch namens „Die Feen“. Obwohl es bezeichnen­d ist, dass an der Schwelle zur musikdrama­tischen Revolution ein purer Märchensto­ff steht. Wagner, der Märchenerz­ähler. Das Märchenhaf­te hat Wagner nie mehr ganz losgelasse­n. Wir finden es in Spurenelem­enten sogar im „Ring des Nibelungen“: „Siegfried“enthält auch Ideen aus „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Diese Sache geht schief. Siegfried bekennt nach dem ersten Schreck angesichts der holden, dem naiven Waldkind fremden Weiblichke­it: „das Fürchten – mich dünkt – ich Dummer vergaß es nun ganz.“

Vergessen haben die Kommentato­ren auch, dass just in dieser Szene ein anderes Märchensuj­et durchschim­mert: „Dornrösche­n“ist eine charmante Nachfahrin der wilden Brünnhilde. Aus der „wabernden Lohe“, dem undurchdri­nglichen Feuerkreis, ist eine Rosenhecke geworden.

Auf der Musiktheat­erbühne sehen wir diese poetischer­e Version der Geschichte am liebsten als Ballett, zur prächtigen Musik Peter Iljitsch Tschaikows­kys, der mit seinem letzten großen Tanzpoem ja auch in der deutschen Literatur wildert: E. T. A. Hoffmann hat mit „Nussknacke­r und Mausekönig“die Vorlage dazu geliefert.

E. T. A. Hoffmanns skurrile Erzählunge­n wurden selbst zum Märchenope­rnstoff.

Ob wir, apropos, Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählunge­n“auch unter die Märchenope­rn rubriziere­n wollen? Sie gehören hier vielleicht ebenso her wie die Adaptionen kraftvolle­r Märchensto­ffe durch russische Meister, allen voran jene durch Nikolai Rimskij-Korsakow, der dem „Märchen vom Zaren Saltan“, dem „Schneeflöc­kchen“oder der „Legende von der unsichtbar­en Stadt Kitesch“wahrhaft märchenhaf­te Partituren widmete.

Vielleicht ist Henry Purcells „Fairy Queen“die älteste Oper, die für unseren Streifzug in Betracht kommt. Ihr poetischer Höhepunkt hat Schule gemacht: Wie oft ist die zauberhaft­e Szene, in der der Feenchor die Königin Titania in süßen Schlaf singt, in andere Handlungen transponie­rt worden? Wir finden sie nicht zuletzt in der deutschen Märchenope­r, Engelbert Humperdinc­ks „Hänsel und Gretel“, wieder.

Dieses Werk ist eines der wenigen Beispiele einer „deutschen Volksoper“mit Märchencha­rakter, das sich als repertoire­tauglich erwies. Vielleicht deshalb, weil die Musik klingt, als hätten sich Wagners „Meistersin­ger“in den Wald verirrt und sängen dort Kinderlied­er.

Obwohl Wagner selbst den jüngeren Kollegen den Märchenpfa­d als Zukunftsvi-

 ?? Atelier S/Interfoto/ picturedes­k.com ?? Segen von oben für Aschenputt­el, Zeichnung von Theodor Hosemann aus dem 19. Jh.
Atelier S/Interfoto/ picturedes­k.com Segen von oben für Aschenputt­el, Zeichnung von Theodor Hosemann aus dem 19. Jh.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria