Putins Zarenpalast steht unter Beschuss
Achtung, FŻke! Nicht alles, was aussieht wie eine Ente, ist eine Ente. Und nicht alles, was in der »Prawda« steht, ist die Wahrheit. Bei der Korrektur von Falschmeldungen sollten Regierungen dennoch vorsichtig sein. Sonst droht willkürliche Zensur.
Sensationsmeldungen erreichen den Mediator soeben aus Russland: In der Hauptstadt St. Petersburg, Geburtsort des reaktionären Präsidenten Wladimir Putin, war in der Nacht auf Sonntag Kanonendonner zu hören. Tausende Rotgardisten stürmten daraufhin den Winterpalast. Es kam zu heftigen Gefechten mit regulären Truppen. Auf beiden Seiten soll Hunderte Kämpfer gefallen sein. Gegen zwei Uhr gelang es dem Genossen Antonow-Owsejenko, in den Raum einzudringen, in dem die Regierung tagte. Sie wurde verhaftet. Der von Russland-Experten lang erwartete Putsch hatte nun offenbar Erfolg.
Kluge „Presse“-Leser wissen spätestens seit dem zweiten Satz, dass es sich hier um Fake News handelt, die seit der Kampagne des eben vereidigten US-Präsidenten, Donald J. Trump, modisch sind. Petersburg ist nicht die Hauptstadt Russlands, der Rest der Geschichte dürfte zum Großteil auch eine dreiste Fälschung sein. Die tollsten Dokumente der Oktoberrevolution von 1917 sind nicht Originale, sondern Nachstellungen aus Sergej Eisensteins Film „Oktober“von 1928. Stalin, damals bereits Großer Diktator, wurde in der fantasiereichen Montage heroisch gezeigt. Szenen mit seinem Kontrahenten Trotzki ließ er herausscheiden. Und die Wirklichkeit? Sie war bis auf das Ergebnis des Putsches ein wenig anders. Das Palais wurde von ein paar Kadetten, Kosaken und Frauen verteidigt, Ministerpräsident Kerenski hatte sich bereits abgesetzt. Eine Schar Rotgardisten und Matrosen marschierte fast ungehindert ein, es fielen nur vereinzelt Schüsse. Durch die Küche drangen sie in den Palast und mussten lang suchen, bis sie die kopflose Regierung fanden. Die Opferbilanz: sechs Tote und zwei kaputte Fensterscheiben. Revolutionsführer Lenin hat die historische Stunde versäumt. Ihm ging es wie fast allen Bürgern von Petersburg. Sie haben von der völlig desorganisierten Machtergreifung der Bolschewisten am nächsten Morgen erfahren.
Das ist nur eines von zahllosen Beispielen für Falschmeldungen aus der Zeit vor der Erfindung des Internets, und zwar eines der gelungenen Propaganda. Manche davon überdauern keine Nacht. Eine der berühmtesten Zeitungsenten wurde am 3. November 1948 von der „Chicago Daily Tribune“produziert. Die Tageszeitung hatte sich auf erste Prognosen verlassen und vor- eilig gemeldet, dass Harry S. Truman in der US-Präsidentschaftswahl vom Republikaner Thomas E. Dewey besiegt worden sei. Das Dementi war dann nicht mehr exklusiv. Fotos, auf denen der triumphierende Truman die Zeitung mit der falschen Schlagzeile in den Händen hält, gingen um die Welt.
Und die Moral von der Geschichte? Es braucht kein Facebook oder andere soziale Medien, um Lügen oder Irrtümer zu verbreiten. Der Unterschied zu früher besteht nur darin, dass es noch nie so leicht war, Fake News zu produzieren und gewinnbringend zu verwerten. Es ist auch heikel, Kontrollmechanismen einzuführen, die mit solchen Nachrichten aufräumen. Wo hört die Kontrolle auf? Wo beginnt die Zensur? Bil©ung stŻtt Zensur. Es ist anzunehmen, dass jene am lautesten „Fälschung!“schreien, die selbst solche News erzeugen. Das Angebot von Facebook, externe Prüfer zu beschäftigen, hat ebenfalls seine Tücken. Wer wird von dem neuen Gewerbe profitieren? Der Netzexperte Evgeny Morozow hat unlängst auf Twitter und in seriösen Medien davor gewarnt, dass es sich bei Fake News um eine Konsequenz aus dem Geschäftsmodell des digitalen Kapitalismus handle. Das dürfte nicht ganz falsch sein. Dennoch ist Gelassenheit angesagt. Gegen Falsches kann man sich in intakten Demokratien auch bisher wehren: etwa mit Klagen wegen Verleumdung oder Geschäftsschädigung. Das beste Mittel gegen derartige Manipulationen sind jedoch kritische, aufgeklärte Bürger. Die Devise sollte lauten: Bildung, Bildung, Bildung!