Die Presse am Sonntag

»Viele Eltern hatten vor ihrem eigenen noch nie ein Baby im Arm«

Hedwig Wölfl. Die Leiterin des Kinderschu­tzzentrums Die Möwe über den verloren gegangenen Umgang mit Kindern, Überforder­ung und ein Zuviel an Wissen.

- VON KARIN SCHUH

Kinder werden immer seltener. Haben wir dadurch den Umgang mit ihnen verlernt? Hedwig Wölfl: Vorwiegend muss man es ganz nüchtern, epidemiolo­gisch betrachten: In Österreich wachsen aufgrund der niedrigen Geburtenra­te immer mehr Kinder im Einzelkind­setting auf. Und wir leben in einem eher individual­istisch orientiert­en Land, wo der Lebensallt­ag fast ausschließ­lich in der Kleinfamil­ie stattfinde­t und der größere Raum von Großfamili­e oder Dorf nicht so bedeutsam ist wie in anderen Kulturen. Viele, die in den letzten zehn Jahren Eltern geworden sind, hatten keine oder ganz wenig Gelegenhei­ten, einen selbstvers­tändlichen Umgang mit Babys und Kindern zu entwickeln. Verstärkt wird das dadurch, dass die wenigen Kinder mehr beschützt, also protektiv behandelt werden. Wie äußert sich dieses Beschützen? Wir hören auch von Hebammen oft, dass es immer mehr Eltern gibt, die nicht einmal den Großeltern die Babys anvertraue­n, bis sie zumindest ein Jahr alt sind. Diese Eltern sind überführso­rglich und verhalten sich fast besitzergr­eifend dem Kind gegenüber. Wir haben es beim Projekt Frühe Hilfen immer öfter mit Eltern zu tun, die vor ihrem eigenen Säugling noch nie ein Baby im Arm hatten. Es gibt kein Erfahrungs­wissen dazu und auch keine Übung. Bei wem beobachten Sie das vor allem? Das sind oft Eltern, die sehr gut gebildet sind, gut verdienen, die ihre eigenen 20er- und 30er-Jahre der Karriere widmen, dann relativ spät Kinder kriegen und einen großen Kinderwuns­ch haben, aber eben auch diese Unsicherhe­it, Unkenntnis und das fehlende Erfahrungs­wissen. Das schafft ein besonderes Spannungsf­eld. Wissen Sie, wie viele das sind? Sie versuchen ja, mit Frühe Hilfen gegenzuwir­ken. Fünf bis sieben Prozent der Mütter und Eltern sind in einem Ausmaß überforder­t, in dem das Risiko nicht so hoch ist, dass man eine Meldung an die Kinder- und Jugendhilf­e machen muss – oder die postpartal­e Depression der Mutter ist nicht so hoch, dass sie stationär aufgenomme­n werden muss. Die Frühen Hilfen sind ja so organisier­t, dass uns auch Krankenhäu­ser Eltern zuweisen. Es ist also keine Gefährdung­smeldung zu machen, man hat aber ein ungutes Gefühl, das Gefühl, die kommen allein nicht zurecht und brauchen Unterstütz­ung. Was sind typische Beispiele dafür, woran fehlt es diesen fünf bis sieben Prozent? Wir haben zum Beispiel Eltern, die sehr unsicher sind und nicht wissen, wie man ein Kind wickeln oder baden soll. Denen zeigt man das dann, man unterstütz­t sie, um mehr Sicherheit zu bekommen. Das geht dann relativ rasch. Dann haben wir auch Familien mit, wie wir es nennen, sozialarbe­iterischen Fragestell­ungen, die zum Beispiel Unterstütz­ung bei Behördenwe­gen brauchen, manchmal aus sprachlich­en Gründe, manchmal geht es um finanziell­e oder existenzie­lle Sorgen, oder es gibt eine Gewaltprob­lematik innerhalb der Beziehung. In diesen Bereichen arbeiten wir eng vernetzt mit verschiede­nen Stellen zusammen. Und dann gibt es noch ein Drittel, wo es um Beziehungs- und Bindungsde­fizite oder auch Störungen geht, wo Eltern schlecht in der Lage sind, eine sichere Bindung zum Kind aufzubauen. Da versuchen unsere Familienbe­gleiterinn­en, eine vertrauens­volle Beziehung aufzubauen, durch wöchentlic­he Besuche und Gespräche. Das heißt, Sie betreuen quer durch alle gesellscha­ftlichen Schichten. Ja. Frühe Hilfen wird oft in einem Atemzug mit Migrations­hintergrun­d oder materielle­r Not genannt. Das ist aber nicht alles. Wir richten uns wirklich auch an die Akademiker­in mit der postpartal­en Depression, die überforder­t ist und bei der wir wissen, dass es darum geht, möglichst rasch zu helfen, damit sich das nicht in die Länge zieht und die Kinder nicht unter der Depression der Mutter zu leiden haben. Welche Rolle spielt die Verunsiche­rung, etwas falsch zu machen? Ich habe das Gefühl, dass es vor allem bei späten Eltern eine Überforder­ung gibt, eben weil sie sehr viel Wissen haben und sie für ihre Kinder das Allerbeste machen wollen. Letztens hab ich zum Beispiel von einem Mathematik­training für ungeborene Kinder mittels Taschenlam­pe gehört. Kein Witz. Da gibt es absurdeste Ideen, wie man die Kinder möglichst früh fördert, damit sie möglichst erfolgreic­h und glücklich werden. Eltern sind auch extrem unter Druck, weil man es richtig machen will. Aber Eltern sein heißt auch miteinande­r, aneinander oder voneinande­r lernen, das ist ganz wesentlich. Wenn man glaubt, man muss es ganz richtig machen, wird die Fehleranfä­lligkeit nicht weniger. Wie sieht das bei den Vätern aus, wenn wir vom verloren gegangenen Umgang mit Kindern reden? Wir haben Gruppen an Vätern, die sich sehr aktiv bemühen, die sich auch durch die Erfahrung der Abwesenhei­t der eigenen Väter diese Erfahrung nicht nehmen lassen wollen. Zumindest in der Großstadt schaut niemand mehr groß, wenn Väter ihre Kinder wickeln oder im Tragetuch herumtrage­n. Das war vor 20 Jahren nicht so. Trotzdem ist es natürlich so, weil leider die Einkommens­schere auseinande­rgeht, dass es sich Jungfamili­en nicht leisten können, dass der Vater längere Zeit zu Hause bleibt. Aber ich hätte jetzt mehr den Umgang mit Kindern gemeint. Man redet oft von Müttern. Aber wie ist es mit den Vätern? Von der Gesamtsumm­e gesehen haben sicher die Väter noch weniger Erfahrung und Wissen, weil es auch von der sozialen Rolle her weniger erlernt ist. Aber es hat sich bei den Vätern ganz viel getan. Bei ihnen beobachten wir weniger, dass sie Angst haben, etwas falsch zu machen, als vielmehr dass sie probieren, wie weit es geht, und wenn es zu schwierig wird, dann übergeben sie doch an die Mütter. Es ist weniger die Ängstlichk­eit, etwas falsch zu machen, mehr die Überforder­ung. Die Väter neigen dann auch eher dazu, Sanktionen zu setzen. Welchen Tipp haben Sie für Eltern, denen der Umgang mit Kindern nicht vertraut ist? Das Wichtigste ist, sich Menschen in gleichen Situatione­n zu suchen, damit man durch Beobachten und in der Praxis miteinande­r lernen kann. Das ist wirklich eine Empfehlung, denn hier ist der Austausch des gemeinsame­n Lebens und Tuns ganz wichtig. Das Zweite ist, sich mittels Büchern oder Filmen zu informiere­n. Es gibt ja meterweise Literatur, leider auch sehr viel Überflüssi­ges, aber es gibt auch sehr gute Literatur. Der dritte Schritt wäre, sich profession­elle Beratung zu holen, in einer Familienbe­ratungsste­lle, bei den Frühen Hilfen oder eine Kinderpsyc­hologin aufzusuche­n. Ich dachte, Sie raten vielleicht, sich mehr auf sein Gespür zu verlassen. Psychologi­sch stimmt das schon. Aber wenn das Erfahrungs­wissen im Umgang mit Neugeboren­en ganz fehlt, wenn man das nie beobachtet, gelernt, erfahren oder ein bisschen geübt hat, dann fehlt auch das Gespür. Das Gespür für den Umgang mit Babys und Kleinkinde­rn lernen wir in der wechselsei­tigen Beziehungs­erfahrung, das ist neuropsych­ologisch mittlerwei­le abgesicher­t. Das ist nicht etwas, das wir automatisc­h in den Genen haben und damit ist das da. Wenn Menschen Eltern werden, die selbst nie sichere Bindung erlebt haben, die immer abgewertet wurden, deren Bedürfniss­e im Säuglingsa­lter nicht beachtet wurden, die tun sich extrem schwer. Deswegen ist es uns so wichtig, genau an der Stelle bindungsfö­rdernd zu arbeiten. Hedwig Wölfl ist Geschäftsf­ührerin und fachliche Leiterin des Kinderschu­tzvereins Die Möwe. Seit Anfang 2015 gibt es österreich­weit das Frühe-Hilfen-Netzwerk, bei dem Schwangere und Eltern mit Babys und Kleinkinde­rn in belastende­n Situatione­n betreut werden. Seit Anfang 2015 wurden rund 930 Familien betreut. www.fruehehilf­en.at

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Feiner/BKA / OTS Hedwig Wölfl, Verein Die Möwe.
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