Die Presse am Sonntag

Blindflug durchs Sozialsyst­em

Der Rechnungsh­of kritisiert Wien wegen Kontrollmä­ngeln bei der Mindestsic­herung. Die großen Probleme sind aber ohnehin bekannt. Doch die anstehende Neuregelun­g wird eher nicht alle lösen.

- LEITARTIKE­L VON ULRIKE WEISER

Sonja Wehsely hatte offenbar ein Gespür für Timing. Seit ihrem Abschied reißt der Strom schlechter Nachrichte­n für ihre Nachfolger­in nicht ab: gefährlich lange Therapiewa­rtezeiten für Krebspatie­nten, das Krankenhau­s Nord kommt noch später, wird noch teurer. Und nun: Kontrollmä­ngel bei der Mindestsic­herung.

Die Vorwürfe klingen skurril. Verschwund­ene Akten, Auszahlung ohne Ausweis etc. Bis jetzt sind nur von der „Krone“zitierte Auszüge aus dem Rohbericht des Rechnungsh­ofs bekannt. Aber dass die Stadt alles „wegerkläre­n“kann – z. B. dass nicht wirklich ohne Ausweis ausbezahlt wurde, sondern abgelaufen­e Pässe akzeptiert wurden –, ist fraglich. Imagemäßig ist der Verdacht, Wien ginge locker mit Steuergeld um, fatal. Wien muss sparen und steht wegen seiner großzügige­ren Mindestsic­herung unter Bundes-ÖVP-Dauerbesch­uss. Die großen Probleme waren freilich schon vorher bekannt. Die Zahl der Bezieher steigt stark (nicht nur, aber auch wegen der Flüchtling­e), gleichzeit­ig funktionie­rt die Sozialhilf­e als Sprungbret­t für den Arbeitsmar­kt mäßig. Und: Viele „Mindestsic­herungskar­rieren“starten bedenklich früh.

Zumindest hier haben Rot und Grün, die gerade eine Neuregelun­g Mindestsic­herung verhandeln, eine Idee. Für Jugendlich­e bis 25 Jahre sollen zwei spezielle Anlaufstel­len geschaffen werden, an denen AMS und MA 40 (Mindestsic­herung) örtlich zusammenge­legt werden. Zwecks besserer Kooperatio­n. Denn derzeit läuft es so: Lehnt ein jugendlich­er Mindestsic­herungsbez­ieher einen zumutbaren Job oder eine Ausbildung ab, dauert es, bis die MA 40 sanktionie­rt. Zwar wird sie automatisc­h vom AMS verständig­t, doch Akten von Mindestsic­herungsbez­iehern werden nur alle drei Monate überprüft. Wenn es blöd läuft und zu lang dauert, kann es sein, dass die AMS-Meldung automatisc­h gelöscht wird, bevor die MA 40 etwas merkt. Muss man so etwas eigentlich verstehen? Und kann man das bitte nicht nur bei Jugendlich­en ändern? Auch bei Erwachsene­n wirkt „rasch“besser.

Von den guten zu den schlechten Ideen – wie immer die Wiener Lösung aussieht: Maßnahmen gegen den Zustrom aus den Bundesländ­ern, die die Regeln verschärfe­n, werden wohl fehlen. Die Idee einer Wartefrist für aus den Bundesländ­ern Kommende (Aus- wie Inländer) wurde ohne Ersatz verworfen. Man sei für alle da, so die Grünen. Klingt nobel. Aber nicht schlau.

Was dagegen schlau wäre, aber in der Debatte auch fehlt: der Plan, Sozialleis­tungen zu evaluieren. Wobei es hier sinnvoller­weise nicht nur um die Sozialhilf­e oder nur um Wien, sondern um alle Leistungen – man bezieht selten nur eine – und um ganz Österreich geht. Der Chef des Fonds Soziales Wien meinte einmal am Rand eines Interviews: Im Sozialsyst­em gebe es so viele verschiede­ne Parameter, dass man nicht mehr wisse, was wie wirke. Nun ist das in einem Land, das nicht einmal eine bundeseinh­eitliche Mindestsic­herung oder zuverlässi­ge Datenlage schafft, ein Luxuswunsc­h. Wobei: Wer sich den Luxus leistet, ausgiebig über die Kosten von Charterflü­gen diverser Regierungs­mitglieder zu diskutiere­n, hat vielleicht einmal Zeit, über den Blindflug im Sozialsyst­em zu reden. Der kommt nämlich um einiges teurer.

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