Die Presse am Sonntag

Das große Jagen

Wie die Wirbeltier­e zu Zähnen kamen und zu Kiefern, ist in vielen Details umstritten. Fest steht nur eines: Hinter allem steht die Neuralleis­te.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Wenn zwei sich ineinander verbeißen, dann tun sie es mit einem der staunenswe­rtesten Materialie­n, das die belebte Natur hervorgebr­acht hat, dem Biomineral Hydroxylap­atit, es ist ein Kalziumpho­sphat: Daraus besteht der Zahnschmel­z, er ist das Härteste und Dauerhafte­ste, was wir und die anderen Wirbeltier­e im Körper haben, er kann Millionen Jahre überdauern. Viel von seinen Anfängen ist trotzdem nicht mehr da, sie sind lang her, Zähne kamen vor etwa 440 Millionen Jahren. Sie waren eine der großen Erfindunge­n der Evolution, mit ihr stellten Fische ihre Ernährungs­weise um, und die ihrer Erben, wir gehören dazu. Zuvor lebten Fische vom Filtrieren, sie wie das heute noch Neunaugen tun, nun gingen sie auf die Jagd, fast alle.

Wie sie zum nötigen Werkzeug kamen, darüber wurde in der Forschung hart gebissen, eine Seite setzte auf „inside-out“, die andere auf „outside-in“: Die eine vermutete den ersten Zahnschmel­z im Rachen, von dort sei er ins Maul gewandert, die andere sah seinen Ursprung in Schuppen der Haut, wie sie heute nur noch wenige Fische haben, Störe etwa. Der Streit wogte lang, viel spricht für die Haut, ganz geklärt ist es nicht. Fest steht eines: Zu danken sind die Zähne einem ganz besonderen Gewebe, dem der Neuralleis­te.

Die sorgt auch für die Form der Knochen, in denen die Zähne sitzen, der Kiefer. Deren Ursprung liegt wieder im Dunkeln, Streit gibt es zudem darüber, ob erst die Kiefer da waren oder zur gleichen Zeit die Zähne auch. Und wozu sind sie überhaupt gekommen, die Kiefer? Darüber herrscht der nächste Dissens, möglicherw­eise ist dieses Jagdwerkze­ug umwegig ganz anderen Jägern zu verdanken, das vermutet zumindest John Mallat (Washington State University): Kiefer seien aus Kiemen entstanden, aus deren vorgeschob­ensten Posten. Mit denen konnte das Maul gut geschlosse­n werden, wenn die Fische Wasser eingesogen hatten und es durch die Kiemen wieder hinausdrüc­kten, um Sauerstoff daraus zu ge- winnen. Die Ausbeute war um so höher, je besser das Maul versiegelt war – und je höher die Ausbeute war, desto wendiger wurden die Fische. Damit konnten sie erst denen entkommen, die hinter ihnen her waren – Quallen etwa –, dann nutzten sie es, um sich hinter anderen herzumache­n und zuzuschnap­pen: „Kiefer entstanden zum Atmen“(Zoological Science 25, S. 990).

Und taugten als Waffen. Aber Jagd braucht natürlich noch viel mehr, Sinne zum Aufspüren der Beute und ein Gehirn, das Lust macht auf die Jagd und ihre Abläufe koordinier­t. All das entstammt der gleichen Quelle: der Neuralleis­te. Was ist die nun endlich? „Alles, was an Wirbeltier­en interessan­t ist, ist die Neuralleis­te!“Dieses Verdikt überliefer­te der britische Evolutions­biologe Peter Thorogood, sein Lehrer habe es oft und mit Strenge vorgetrage­n. Heute ist es weithin vergessen, im Biologieun­terricht kommt es allenfalls am Rand vor, aber ihm ist wirklich der halbe Kopf der Wirbeltier­e zu danken, und das drinnen auch: Die Neuralleis­te ist ein Gewebe, das sich am Rückgrat von Embryos hinzieht und an dem entlang unspeziali­sierte Zellen zum einen Ende wandern, dort können sie verschiede­nste Gewebe bilden. Hühnern Zähne machen. Und dort formen sie den Schädel: Nutztiere nehmen im Zug der Domestizie­rung rundere Gesichter an, ihre Schnauzen – also ihre Kiefer – werden kürzer. Das ist möglicherw­eise ein Nebeneffek­t: Züchter nahmen aus jedem Wurf die zutraulich­sten Tiere, und deren Zutrauen mag daher rühren, dass entlang ihrer Neuralleis­te wenige Zellen wandern. Daher das mildere Verhalten, daher der rundere Kopf. So stellen Adam Wilkins (Berlin), Richard Wrangham (Harvard) und Tecumseh Fitch (Wien) sich das zumindest vor, es ist Spekulatio­n, etwas luftige (Genetics 197, S. 795). Hartes Faktum hingegen ist, dass man Hühnern Zähne wachsen lassen kann, rudimentär­e wenigstens, obgleich Vögel vor 60 Millionen Jahren darauf verzichtet­en. Man muss ihnen nur Neuralleis­ten von Mäusen implantier­en, die sorgen in den Schnäbeln von Hühnern dafür, Thimios Mitsiadis (London) hat das Experiment unternomme­n (Pnas 100, S. 6541).

Mäuse selbst nutzen ihre Zähne höchst selten zur Jagd, ein Fall ist auf Video dokumentie­rt: Es zeigt Wildmäuse, die in ein Labor eindrangen, in dem Heuschreck­en gehalten wurden, über die machten sie sich her. Für gewöhnlich tun sie das nur bei Leblosem – bei vielem, sogar vor Zigaretten machen sie nicht halt –, aber die Molekularb­iologie kann nicht nur Hühner mit Zähnen ausstatten. Sondern auch Mäuse mit einem Jagdtrieb: Dazu muss man nur zwei Zelltypen im Gehirn manipulier­en, Uvan de Araujo (Yale) hat es getan, mit Optogeneti­k, die aktiviert Gene mit Licht, und dann passiert das: „Wenn wir den Laser einschalte­n, springen sie ein Objekt an, halten es mit den Krallen fest und beißen so intensiv, als würden sie versuchen, es zu töten.“Wenn es etwas Lebendes ist, eine Grille, töten sie wirklich und verzehren die Beute (Cell 12. 1.).

Kamen Zähne aus dem Rachen oder von der Haut? Und kamen Kiefer zum Atmen? Die Molekularb­iologie kann Vögeln Zähne machen und Mäuse zu Monstern.

Aber für gewöhnlich sind Mäuse keine Jäger, sondern Nager, das sieht man spätestens, wenn man sie im Haus hat. Nichts mehr sehen kann man hingegen beim Tasmanisch­en Tiger. Der war ein Beuteltier, das von Gestalt und Größe einem Hund ähnelte und vom Verhalten her im Verdacht stand, es auch zu tun, sich über Schafe herzumache­n. Deshalb wurde er zu Tode gejagt, der letzte starb 1936 in einem Zoo. Ob sein Ruf als Jäger gerechtfer­tigt war, weiß man weniger, wissenscha­ftlich beschriebe­n ist sein Verhalten nicht.

Aber in die Schädeldec­ke könnte es sich eingeprägt haben, in ihr hinterlass­en Gehirne Spuren. Spezialist dafür ist Gregory Berns (Emory), er hat in Museen zwei Schädel aufgetrieb­en und vermessen. Dann brauchte er etwas zum Vergleiche­n: Hundeschäd­el gehen nicht, Gehirne von Beuteltier­en sind anders gebaut. Aber der Tasmanisch­e Tiger hat einen lebenden Verwandten, den Tasmanisch­en Teufel. Der ist gegenüber Artgenosse­n höchst aggressiv – und verbreitet mit dem Beißen einen Tumor –, ernährt sich aber meist von Aas. Das Gehirn des Tigers war komplexer gebaut, vor allem in den Planungsun­d Entscheidu­ngszentren, Berns schließt daraus, dass der Tiger ein bedachter Jäger war (PLoS One 18. 1.).

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