Über die weiße Grenze
Kanadas Grenzregionen erleben einen Zustrom von Flüchtlingen aus den USA: Sie überqueren zu Fuß bei eisigen Temperaturen die Grenze – und riskieren Erfrierungen.
Ihre Hände – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist – sind dick verbunden. Fast alle Finger mussten amputiert werden, weil sie erfroren waren. Razak Lyal und Seidu Mohammed aus Ghana waren am Heiligen Abend stundenlang durch die bitterkalte Nacht geirrt, nachdem sie die US-Grenze im Bundesstaat Nord-Dakota zu Fuß nach Kanada überquert hatten.
Bis zur Grenze hatte sie ein Taxifahrer gebracht. Dann marschierten sie bei eisiger Kälte über die verschneiten Felder zu Fuß weiter. Auf der kanadischen Seite nahm sie ein Lastwagenfahrer auf und rief über den Notruf Hilfe. Die beiden Männer wurden mit Erfrierungen in ein Krankenhaus in der Nähe und dann nach Winnipeg gebracht. Wochen später erzählen sie erstmals über ihre Erlebnisse und fühlen immer noch die Schmerzen. „Aber wir sind jung und wir sind stark. Wir werden es schaffen“, sagt Mohammed, bei dem wenigstens die Daumen gerettet werden konnten. Im März haben die beiden Ghanaer die Anhörung zu ihrem Asylantrag.
Kanadische Gemeinden und Regionen entlang der Grenze zu den USA spüren die Auswirkungen der gegen Immigration und Aufnahme von Flüchtlingen gerichteten Politik von US-Präsident Donald Trump. Bereits im vergangenen Jahr war die Zahl derer, die aus den USA zu Fuß über die weiße Grenze nach Kanada kamen und um Asyl baten, gestiegen. Seit der Jahreswende werden es immer mehr. Der Weg ist lebensgefährlich. Kinder und Erwachsene leiden gleichermaßen unter der Kälte.
Die Grenze zwischen Nord-Dakota und Manitoba ist einer der Abschnitte der mehrere tausend Kilometer langen Grenze zwischen beiden Staaten, an der besonders viele illegale Übertritte stattfinden. Auch in Quebec kommen immer mehr Menschen über die Grenze. Immer wieder berichten Flüchtlinge, die vor allem aus afrikanischen oder arabischen Ländern kommen, von der eisigen Kälte. Bei minus 20 Grad und heftigem Wind, der die ge- fühlte Temperatur auf unter minus 30 Grad drücken kann, bei der ungeschützte Haut binnen einiger Minuten erfriert, wagen sie den Fußmarsch – manche mit Kindern im Kinderwagen oder auf dem Arm.
Rita Chahal hat stets das Bild des ertrunkenen syrischen Buben Alan Kurdi vor Augen, der 2015 bei der Flucht seiner Familie im Mittelmeer umkam und dessen lebloser Körper an einen Strand in der Türkei gespült wurde. „Ich hoffe, dass wir niemals ähnliche Bilder von einem schnee- und eisbedeckten Präriefeld sehen werden. Aber die Gefahr, dass Flüchtlinge bei diesem Wetter ums Leben kommen, ist groß. Ich bin sehr besorgt“, sagt Chahal, Leiterin des Manitoba Interfaith Immigration Council in Winnipeg, der Hauptstadt der Provinz Manitoba.
Das Welcome Centre der mehrere Kirchen umfassenden Flüchtlingshilfe ist an die Grenzen seiner Kapazität gelangt und kann keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. „In den vergangenen Jahren hatten wir im Durchschnitt 50 bis 60 Flüchtlinge, die bei uns in Manitoba zu Fuß über die Grenze kamen und in Kanada den Antrag auf Anerkennung als Flüchtling stellten“, berichtet Chahal. Aber im Laufe des Jahres 2016 wuchs die Zahl kontinuierlich. Seit dem 1. April 2016 sind es nach Angaben der Grenzbehörden bereits mehr als 400, und es werden immer mehr. Zwanzig bis 30 haben an den beiden vergangenen Wochenenden jeweils die Grenze überquert. Sicherer Zufluchtsort. Auch Farhan Ahmed aus Somalia, der Anfang Februar in einer Gruppe von Flüchtlingen, darunter eine Familie mit Kindern, über die vereisten Felder nach Kanada kam, wird die Kälte nie vergessen. „Es war sehr, sehr kalt und eisig.“Glücklicherweise griff ihn die Polizei rechtzeitig auf und brachte ihn mit den anderen zu einer Station der kanadischen Grenzbehörde. „Sie wärmten uns. Ich konnte meine Hände nicht mehr spüren“, erzählt er.
Dass Flüchtlinge diesen Weg wählen, liegt an dem Abkommen zwischen Kanada und den USA, in dem die USA als „sicherer Zufluchtsort“bezeichnet werden. Wer mit Flugzeug oder Auto an Flughäfen und Grenzübergängen aus den USA nach Kanada kommt, wird in die USA zurückgeschickt, weil er dort – zumindest auf dem Papier – bereits in Sicherheit war und den An- trag auf Anerkennung als Flüchtling stellen muss. Eine Ausnahme gilt: Wer bereits in Kanada ist, etwa weil er zu Fuß ins Land kommt, auf der kanadischen Seite von Polizei oder Grenzbehörden aufgegriffen und dann an einen offiziellen Grenzübergang für die Formalitäten gebracht wird, der darf in Kanada den Antrag einbringen. Diesen Weg wählen nun immer mehr Flüchtlinge, die sich in den USA nicht mehr willkommen fühlen und fürchten, dass ihr Antrag abgelehnt wird und sie ausgewiesen werden.
Minus 20 Grad und heftiger Wind: Ungeschützte Haut friert binnen weniger Minuten. Wer in Kanada den Antrag auf Asyl einbringt, der darf vorerst auch bleiben.
Der kanadische Flüchtlingsrat fordert indes die Regierung von Premier Justin Trudeau auf, das Abkommen mit den USA aus dem Jahr 2004 zu kündigen. „Die USA waren niemals ein sicherer Zufluchtsort für alle Flüchtlinge, jetzt sind sie es noch weniger“, meint Janet Dench, Leiterin des Flüchtlingsrats in Toronto. Das Abkommen zwinge Flüchtlinge, die aus den USA kommen, illegal die Grenze zu überschreiten und sich dadurch in Gefahr zu begeben. „Wir können Leben retten, wenn wir Flüchtlingen erlauben, ihren Asylantrag zu stellen, ohne verzweifelte Schritte zu unternehmen.“Einwanderungsminister Ahmed Hussen, der als jugendlicher Flüchtling aus Somalia nach Kanada kam, hat diese Überlegung bisher zurückgewiesen.
„Wir haben nicht die Ressourcen, Flüchtlingen zu helfen. Wir hoffen auf Spenden“, sagt Rita Chahal. „Viele dieser Menschen fliehen aus Todesangst. Sie bauen darauf, dass Kanada ein Land ist, das sie willkommen heißt.“Sie rechnet damit, dass sich im Frühjahr, wenn das Wetter besser ist, der Zustrom noch verstärken könnte. Dass der Anstieg der Flüchtlingszahlen mit der Politik von US-Präsident Trump und der Stimmung in den USA zu tun hat, liegt für Manitobas Regierungschef Brian Pallister auf der Hand. Es sei naiv, nicht zu glauben, dass es „mit dieser Art von Haltungen, die südlich von uns geäußert werden“, zu tun hat, sagt er dem kanadischen Rundfunk CBC. „Es hat klar einen kurzfristigen Einfluss, und wir erwarten, dass es auch langfristig einen Einfluss haben könnte.“