Die Presse am Sonntag

Als im Zarenreich die düstere Wolke der Revolution aufzog

In Russland stand im Februar 1917 das autokratis­che Herrschaft­ssystem der Romanows schon derart morsch da, dass ein Funke genügte, um einen revolution­ären Aufstand auszulösen. Der Krieg gegen die Achsenmäch­te wirkte dabei wie ein Geburtshel­fer der Revolut

- VON BURKHARD BISCHOF

Schon lang standen die Zeichen für den Untergang der Zarenherrs­chaft an der Wand, aber niemand in den Palästen von St. Petersburg wollte sie lesen. Im Februar 1914 warnte der Staatsrat Pjotr Durnowo, ein strammer Konservati­ver und 1905/1906 russischer Innenminis­ter, in einem Memorandum den Zaren vor einem Krieg mit dem Deutschen Reich: „Im Falle einer Niederlage“, beschwor er Nikolaus II., „ist eine soziale Revolution in ihrer extremsten Form unausweich­lich.“Der Zar aber stürzte sich im Sommer 1914 in den Krieg gegen die Achsenmäch­te – zunächst unterstütz­t von den Massen im patriotisc­hen Rausch, wie es auch in anderen europäisch­en Ländern der Fall war.

Am 2. Juni 1915 – der Krieg tobte schon fast ein Jahr – hieß es in einem Brief von Wladimir Orlow, dem Chef der Militärkan­zlei des Zaren, prophetisc­h: „Die düstere Wolke der Revolution kommt näher.“Und am 2. September desselben Jahres verglich ein liberaler Abgeordnet­er in einer Rede in der Duma (Parlament) Russland mit einem Automobil, das von einem wahnsinnig­en Chauffeur mit zu hoher Geschwindi­gkeit gesteuert werde, den die Insassen aus Angst um ihr Leben aber nicht aufzuhalte­n wagten.

Schnurstra­cks steuerte Zar Nikolaus sein Reich auf den Abgrund zu, angefeuert von seiner hysterisch­en Frau, Alexandra Fedorovna, und deren mysteriöse­m Einflüster­er Rasputin, nur ja nicht vom Gas zu gehen. Im Februar 1917 dann der Sturz der Romanow-Dynastie ins Bodenlose. Krieg und Revolution. War dieser Untergang des russischen Kaiserreic­hs, der am 17. Juli 1918 mit der grausamen Ermordung der Zarenfamil­ie im Ipatjew-Haus in Jekaterinb­urg besiegelt wurde, unausweich­lich? Waren also von vornherein alle Weichen für den Massenaufs­tand im Februar 1917 gestellt, der im Gegensatz zu den Geschehnis­sen im Oktober tatsächlic­h eine Revolution war (die Machtergre­ifung der Bolschewis­ten war ein Staatsstre­ich, kein revolution­ärer Aufstand)?

Eine Revolution hat immer unterschie­dlichste Ursachen. Es gibt keine historisch­e Gesetzmäßi­gkeit, wann das Fass zum Überlaufen kommt und die Revolte losbricht. Für die Russische Februarrev­olution aber gilt ganz bestimmt, dass der Krieg ein Geburtshel­fer war, wahrschein­lich ihr wichtigste­r. Wobei Historiker darüber debattiere­n, ob der Aufstand gegen die Autokratie nicht auch ohne einen Krieg ausgebroch­en wäre, weil das zaristisch­e Herrschaft­ssystem bereits morsch war, sich einer politische­n und sozialökon­omischen Modernisie­rung widersetzt­e, Staat und Gesellscha­ft sich deshalb immer feindselig­er gegenübers­tanden.

Aber der Krieg ab 1914 verstärkte alle inneren Spannungen. Die Zarenarmee, zu der 14 Millionen Mann mobilisier­t worden waren, hatte die höchste Mortalität­srate aller am Ersten Weltkrieg beteiligte­n Länder. Von August 1914 bis Februar 1917 zählte man über acht Millionen Tote, Verwundete, Gefangene und Vermisste. 67 Millionen Menschen im Westen des Landes gerieten unter deutsche oder österreich­ische Besatzung, sechs Millionen wurden zur Flucht gezwungen. Die Truppen an der Front waren schlecht geführt, die Soldaten hassten ihre arroganten und unmenschli­chen Offiziere oft mehr als ihre militärisc­hen Gegner.

Die neu eingezogen­en Soldaten waren meistens schlecht ausgebilde­t, aber noch schlechter ausgerüste­t und versorgt – und damit vielfach Kanonenfut­ter, insbesonde­re für die disziplini­erten und kampferpro­bten deutschen Truppen. Die Befehle an die Front aus dem Hauptquart­ier, in dem ab August 1915 der Zar persönlich als Oberbefehl­shaber agierte, kamen regelmäßig zu spät, kamen gar nicht oder wurden einfach ignoriert. „Das Massengeme­tzel aber und der Hass, den der Krieg schürte, untergrube­n die Chancen auf eine Demokratie nach dem Sturz der Autokratie“, schreibt der englische Historiker Steve A. Smith in seiner Revolution­sstudie.

Schnurstra­cks steuerte Zar Nikolaus II. sein Reich auf den Abgrund zu.

Die Heimatfron­t. Parallel dazu wuchsen die Probleme an der Heimatfron­t: Lebensmitt­elknapphei­t, steigende Preise und verfallend­e Realeinkom­men, wachsende Armut – nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem flachen Land. Denn immer mehr arbeitsfäh­ige Bauern wurden zur Armee eingezogen, andere strömten in die Städte, um dort in den Fabriken die frisch eingezogen­en Arbeitskrä­fte zu ersetzen; oftmals nahmen auch Frauen und Minderjähr­ige die Arbeitsplä­tze der Rekrutiert­en ein.

Im ganzen Land wuchsen angesichts der sich verschlech­ternden Lebensverh­ältnisse, der Schinderei in den Fabriken und der militärisc­hen Rückschläg­e an den Fronten Niedergesc­hlagenheit und Verzweiflu­ng. Es brauchte tatsächlic­h nur den sprichwört­lichen Funken, damit diese Stimmung in Wut, Zorn und Bereitscha­ft zur Rebellion um-

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria