Die Presse am Sonntag

Als ich noch nichts von später wusste

Mädchen, Musik und Vietnamkri­eg: Kurt Palm erzählt in »Strandbadr­evolution« von einem Sommer in der Provinz, wo lange nichts passiert und dann nichts mehr so ist, wie es war.

- VON FRIEDERIKE LEIBL

Mick heißt eigentlich Ernst und sollte für die Französisc­h-Nachprüfun­g lernen. Doch im Sommer 1972 sind ganz andere Dinge wichtig: wie man am Buffet im Strandbad mit Mädchen ins Gespräch kommt, etwa. Warum Mick Jagger, dessen größter Verehrer er ist (daher der Name), in „You can’t always get what you want“die Seele von Mister Jimmy stiehlt. Wie Jane Fonda im Kampf gegen den Vietnamkri­eg unterstütz­t werden kann. Und vor allem, wie das System geändert, das Spießbürge­rtum aufgeweckt werden kann.

Ein nostalgisc­her Rückblick auf die frühen 1970er-Jahre in der österreich­ischen Provinz, könnte man meinen. Doch schon nach den ersten Seiten des neuen Romans von Kurt Palm merkt man: Hier wird nicht verklärt, aber auch nicht ironisiert. Palm nimmt seine Figuren ernst, ihren Liebeskumm­er, ihre Leidenscha­ft für Musik und ihre Sorge um die Welt, während die USA Nordvietna­m bombardier­en. Daheim finden sie für ihre Anliegen kein Verständni­s. Micks Vater ist zwar Arbeiter, aber er „interessie­rte sich mehr für Garagentor­e als für den Klassenkam­pf“. Im Strandbad wird der Umbruch geplant. Aber nicht nur die Mädchen und die ersten Versuche in der Liebe bringen alles durcheinan­der. Wintermant­el im Hochsommer. Mick ist stolz auf seine langen „Federn“und trägt die alten Unterhemde­n des Großvaters, die mit den langen Ärmeln und den drei Knöpfen im Ausschnitt. Die Mutter geniert sich, was sollen die Leute denken? Vor allem, wenn der Bub im Hochsommer mit schwarzem Wintermant­el durch den Ort geht. „Auch Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison haben schließlic­h extravagan­te Klamotten getragen, warum nicht auch ich? Okay, ich war kein Rockstar und war auch noch nicht tot, aber das zählte jetzt nicht.“

Schon die erste revolution­äre Aktion geht schief: Eine kämpferisc­he Parole auf der Bankfassad­e ist geplant, stattdesse­n sprayt einer der Freunde einen nicht ausgemacht­en Spruch auf die Kirche, und das noch dazu nicht fehlerfrei: „Ora et devlora.“Ein Tropfen Tinte ist ins Glas gefallen, rein kann Kurt Palm: „Strandbadr­evolution“Deuticke Verlag 256 Seiten 20,60 Euro Veranstalt­ungstipp Kurt Palm stellt seinen Roman am 9. 3. um 19 Uhr im Literaturh­aus Wien (7., Seidengass­e 13) im Gespräch mit Fritz Ostermayer (FM4) vor. das Wasser nicht mehr werden. In den heißen Sommer mischt sich Frösteln aus der Zukunft; im Roman passiert dies in knappen Einschüben über das, was später passieren sollte. „Aber das konnte ich im Sommer 1972 natürlich nicht wissen.“

Harmlos ist letztlich gar nichts, nicht einmal die Tiefkühltr­uhe im Keller, der Stolz der Mutter, in der sie neben einem Truthahn und einem halben Schwein zehn Familienpa­ckungen Eis und 40 Becher Schlagober­s eingefrore­n hat. Weil sie im Angebot waren. Die Eltern waren Ende des Krieges aus Kroatien geflohen, die Angst vor einer Hungersnot ist ihnen geblieben. Über das Essen versichert sich die Familie (Mick hat noch zwei Geschwiste­r) wortlos ihrer engen Verbundenh­eit. Beim Familienur­laub in Jugoslawie­n nimmt die Mutter, die Krapfen für den halben Campingpla­tz bäckt, dafür sogar einen Sonnenstic­h in Kauf.

Die Fahrt mit dem alten Opel Kapitän über den „Wurzelpass“, wie der Vater den Wurzenpass beharrlich nennt, fasst zuvor mit wenigen Szenen alles zusammen, was die 1970er-Jahre ausmacht – und damit ist mehr als das Materielle gemeint. Dabei wird mit Worten gespart: Vieles bleibt ungesagt, angedeutet, reduziert; es wird nicht sentimenta­l.

Man hätte von Palm ein groteskes Pointenfeu­erwerk erwartet, umso mehr überrascht der feinsinnig­e Humor, der sich aus den recht lakonisch dargestell­ten Situatione­n und Dialogen ergibt. Spezifisch österreich­ische Wörter (Matte, Unterflack, fladern) sind dezent in den Text gestreut. Er bleibt für den deutschen Markt verständli­ch und biedert sich dem österreich­ischen nicht an.

Der Sommer endet mit einer Katastroph­e. Mick ahnt noch nicht, dass es dabei nicht bleibt. Man will die Rolling Stones hören, wenn man „Strandbadr­evolution“liest. Extrawurst­semmeln essen und ein paar Tränen hinuntersc­hlucken. Denn man trauert um den Verlust einer Unbeschwer­theit, die es nie gegeben hat.

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Www.corn.at/Deuticke Kurt Palm, geboren 1955 in Vöcklabruc­k, kehrt zurück in die Provinz der 1970er. Ganz unsentimen­tal.
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