»Manchmal will ich einfach nur noch zurück«
Der österreichische Staat hat im Juni 2016 den Familiennachzug verschärft. Für subsidiär Schutzberechtigte und anerkannte Flüchtlinge ist es nun deutlich schwieriger, ihre Familien nach Österreich zu holen. Wer es probiert, muss längere Wartezeiten auf si
Als er seine Familie verließ, war die Welt noch eine andere. Die Übergriffe in Köln waren noch ein paar Wochen entfernt. Auf der Balkanroute transportierten die Staaten selbst Flüchtlinge durchs Land, die Europäer hießen sie herzlich willkommen. Und auch er, der Syrer Ali A., hatte große Hoffnungen. Vielleicht vier, maximal sechs Monate würde er von ihnen getrennt sein, versprach er seinen fünf Kindern. Am 1. November 2015 nahm er sie das letzte Mal in den Arm. Saad, sein jüngster Sohn, gerade einmal ein Jahr alt, Omar zwei, Mohammed drei, seine Tochter Hajar vier und die älteste, Sara, fast sieben Jahre alt. Auf einem Foto, das der Vater ständig bei sich am Handy trägt, sind die fünf wie Orgelpfeifen nebeneinander aufgestellt: braune Haare, große Augen, alle wie aus einem Gesicht geschnitten.
Eigentlich wollte er sie und seine Ehefrau nicht allein lassen. „Aber was hätten wir tun sollen?“, sagt er heute. Mit fünf kleinen Kindern wäre der Seeweg zwischen der Türkei und Griechenland zu teuer gewesen – und zu gefährlich. „Wenn etwas passiert wäre, ich hätte ihnen nicht allen helfen können.“Auch er kennt die Fotos von den ertrunkenen Flüchtlingskindern, die überall im Netz zu finden sind. So steigt er Anfang November 2015 allein in das kleine Schlauchboot, in das sich fünfzig andere Leute drängen. Sein Ziel ist Österreich. Er weiß, dass Wien eine schöne Stadt ist, er weiß, dass es viele alte Gebäude hier gibt. Als studierter Architekt und Innenausstatter fühlt er sich hier gut aufgehoben. Maximal sechs Monate. Das ist seine Hoffnung. Sie sollte sich nicht erfüllen. Seine Kinder hat er das letzte Mal vor einem Jahr und vier Monaten gesehen. In Gedanken woanders. Ali A. sitzt an diesem Tag in einem Cafe´ am Gürtel. Draußen rauschen die Autos vorbei. Aber für ihn scheint die Zeit schon länger stillzustehen. Er hat zwar in Österreich Asyl bekommen. Doch in Gedanken ist er ständig bei seiner Familie, die der Syrer in der Türkei zurückgelassen hat. Aus Sorge um sie raucht er drei Packungen Zigaretten am Tag, erzählt er. Der hagere 48-Jährige sieht älter aus, spricht mit tiefer Bassstimme, trägt einen hellblauen Pullover und hat das dunkle Haar in einer lockeren Welle nach hinten frisiert. Seine Bartstoppel sind schon leicht ergraut. Er erzählt auf Englisch, sein Deutsch ist auch nach dem einen Jahr hier eher schlecht. „Alles dauert so lange, warum dauert das nur so lange“, murmelt er.
Ali A. weiß, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Sein 16-jähriger Sohn, den er mit seiner ersten Frau hatte, starb 2013 im Krieg. „Ich kam hierher, um meine Familie zu beschützen“, sagt er. „Und jetzt? Nichts.“
Laut § 35 AsylG haben Familienangehörige (Eltern oder minderjährige Kinder) das Recht, in Österreich einzureisen, wenn sich ein Minderjähriger oder Elternteil als Asylberechtigter oder subsidiär Schutzberechtigter im Land befindet. Der Familiennachzug ist, wie NGOs immer wieder betonen, die einzige legale Möglichkeit, nach Österreich zu kommen – die gerade einmal 200 Resettlement-Plätze, die Österreich 2017 vergibt, einmal ausgenommen. Der Familiennachzug ist auch der Grund, warum mehr Männer fliehen als Frauen und Kinder. Die Jungen, Starken werden vorausgeschickt, um später die Schwächeren nachzuholen. So erklären es männliche Syrer, Afghanen und Iraker noch heute, warum sie diejenigen waren, die geflohen sind. Doch das Nachholen ist mittlerweile nicht mehr so einfach. Der Familiennachzug ist mit 1. Juni 2016 deutlich verschärft worden. Lange Wartefristen. Seither müssen subsidiär Schutzberechtigte drei Jahre warten, bis sie den Familiennachzug beantragen können. Dann müssen sie vorweisen können, dass sie genügend Geld verdienen, um sich und die Familie erhalten zu können, plus einen angemessenen Wohnraum bereitstellen. Eine Hürde, die schon bei Österreichern groß ist, die einen Ehepartner aus einem Drittstaat nach Österreich holen wollen („Die Presse“berichtete). Im Schnitt muss ein Vater, der seine Frau und seine zwei Kinder nachholen will, somit ein Netto-Einkommen von rund 1600 Euro haben. Kostet die Wohnung mehr als 278 Euro, muss auch das noch zusätzlich verdient werden.
Die Angehörigen von anerkannten Flüchtlingen müssen wiederum innerhalb einer Frist von drei Monaten um den Familiennachzug ansuchen. Ein Zeitraum, der in der Praxis schwer einzuhalten sei, sagt Claire Schocher-Döring, Leiterin der Abteilung Suchdienst und Familienzusammenführung beim Österreichischen Roten Kreuz. Denn den Antrag für die Zusammenführung und Einreise nach Österreich müssen die Betroffenen selbst stellen. Doch die Grenzen zur Türkei und zum Libanon, wo die nächsten österreichischen Botschaften sind, sind de facto zu. „Wenn jetzt zum Beispiel ein Familienmitglied verschollen oder in Haft ist, dann kann es nicht ansuchen.“Weiters betragen die Wartezeiten, um einen Termin an den Botschaften zu bekommen, oft bis zu zehn Monate.
Das Rote Kreuz ist die Hauptanlaufstelle für die Familienzusammenführung. In den Vorjahren habe die Organisation laut Schocher-Döring rund 80 Prozent der Familienzusammenführungen betreut. Mittlerweile sei die Betreuung der Einzelfälle allerdings deutlich intensiver geworden – die Kritik wiederum nicht weniger. Durch die Novelle sei es für Eltern und minderjährige subsidiär Schutzberechtigte fast unmöglich geworden, ihre Familien ins Land zu holen. Denn – wie der Verwaltungsgerichtshof unlängst entschieden hatte – gilt die Drei-Jahres-Wartefrist für diese Personengruppe ab einem positiven Asylbescheid, nicht ab der Antragsstellung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Minderjähriger in der Zeit volljährig wird, sei groß. Dann verfällt aber sein Recht, die Eltern nachzuholen. Dasselbe gilt für Eltern, deren Kinder in der Zeit volljährig werden. Gerade letztere Fälle häufen sich, heißt es aus der UNFlüchtlingshilfe UNHCR.
Auch Ehen werden häufiger angezweifelt, sagt Schocher-Döring. „Es passiert mittlerweile ganz oft, dass Kindern der Nachzug genehmigt wird, aber der Mutter nicht.“Grund dafür ist auch, dass der generelle Zweifel an der Gültigkeit von Dokumenten steigt. Auch bei Syrern, von denen viele ihre Familien nachholen wollen. „Die Erfahrung ist: Je länger sich ein Land im Krieg befindet, desto weniger glaubt man den Dokumenten. Das Absurde ist, dass im Verfahren trotzdem alle Dokumente verlangt werden, sie aber keine Beweiskraft haben“, kritisiert sie.
Ali A. hat schon einen Sohn verloren, nun fürchtet er um seine anderen Kinder. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Wer volljährig ist, hat keinen Anspruch mehr auf Einreise.
Im Bundesamt für Asylwesen weist man diese Behauptungen zurück. Man halte sich an gesetzliche Vorgaben.
In Zahlen lässt sich das alles noch schlecht fassen. Grob geschätzt, machen die Familiennachzüge rund zehn Prozent der Asylanträge in Österreich aus. Auf zwei bis drei positiv entschiedene Fälle zieht eine Person im Nachzug nach, heißt es aus dem Innenministerium. Das heißt, man erwartet für 2017 rund 10.000 Anträge auf Familiennachzug. 2016 gab es 7275 Anträge (davon wurden 6422 positiv prognostiziert und 853 Fälle negativ). Im Jahr 2015 waren es 6316 (davon 5808 positive zu 508 negativen Prognosen). Ob die Zahl der genehmigten Einreiseanträge durch