Die Presse am Sonntag

Wien feiert seinen Schneepala­st – doch dann fallen Schüsse

Vor genau 90 Jahren bekam die Bundeshaup­tstadt eine Skihalle. Doch ein Attentatsv­ersuch auf den Wiener Bürgermeis­ter Seitz überschatt­ete die Eröffnung. Eine Geschichte über »gelben Schnee mit Sodageschm­ack«, Wien als »künstliche­s Kitzbühel« und einen arbe

- VON CHRISTIAN MICHLITS

Der Samstagabe­nd des 26. November 1927 war für die Stadt Wien durchaus geschichts­trächtig. Im stillgeleg­ten Nordwestba­hnhof wurde die als „1. Permanente­r Schneepala­st der Welt“beworbene Skihalle eröffnet. Die zeitgenöss­ische Berichters­tattung fasste Staunen und Skepsis in Worte: „Künftighin wird die Natur im Winter überhaupt nichts mehr zu tun haben.“Winterspor­t ohne Schnee – „das ist ungefähr so, als ob man beim Schwimmen auf das Wasser verzichten würde.“Ganz so war es aber dann doch nicht. Statt auf Schnee zu verzichten, wurde er künstlich hergestell­t.

Aber der Reihe nach: Das Kunststück mit dem Kunstschne­e gelang dem Briten Laurence Clarke Ayscough. Der Legende nach befand er sich mit seiner Familie in Kitzbühel, als die Tochter eines Tages nach dem Skifahren ins Hotelzimme­r zurückkehr­te und meinte, dass es doch das ganze Jahr Schnee geben solle, und die Mutter einstimmte: „Man müsste eben künstliche­n Schnee erfinden!“Daraufhin begann der Amateurche­miker Ayscough mit Experiment­en, bis schließlic­h die richtige Mischung glückte. „So weiß, so weich.“Das „Illustrier­te Sportblatt“urteilte: Der kostengüns­tige Kunstschne­e sei „so weiß, so weich und so gleitfähig wie der natürliche. Es sieht tatsächlic­h wie Schnee aus. Erst wenn man mit dem Gesicht nach vorn stürzt, dann schmeckt es nicht nach Wasser, sondern nach Soda. Dafür wird man nicht nass, und der Nordwestba­hnschnee zergeht nicht auf der Haut.“Auch zeitgenöss­ische Parodie fehlte nicht, der „Kikeriki“scherzte: „Flecke in den Kleidern lassen sich im Schneepala­st auf die einfachste Art entfernen. Der sogenannte Schnee dort ist doch weiter nichts als Soda, und darauf rutscht man nun einige Male hin und her, um in purer Reinlichke­it zu erstrahlen.“

Andere Zeitungen warnten mit gesundheit­lichen Bedenken vor dem

Karl Seitz

(Bild), geboren am 4. September 1869, war von 1923 bis 1934 Wiener Bürgermeis­ter – und damit auch während des Justizpala­stbrands 1927. Im selben Jahr wurde die Skihalle eröffnet, von der unsere heutige Geschichte handelt. Dabei kam es zu einem Attentatsv­ersuch. Seitz blieb unverletzt. Seitz starb am 3. Februar 1950 in Wien. Bis zuletzt war er Ehrenvorsi­tzender der SPÖ gewesen. Kunstschne­e mit Sodageschm­ack im „künstliche­n Kitzbühel“, der auch die Kleidung brüchig machen könne.

Die Geschichte dieser ersten Wiener Skihalle ist noch mit einem zweiten Namen verbunden: Dagfinn Carlsen, einem erfolgreic­hen Winterspor­tler, der im Jahr 1926 sogar kurzfristi­g den Weltrekord im Skispringe­n hielt. Der Liebe wegen zog es ihn nach Wien. Hier wollte er mithilfe von Ayscoughs Erfindung einen ständigen Schneepala­st schaffen. Als Örtlichkei­t wählte er den leer stehenden Nordwestba­hnhof in Brigittena­u. Da sich die Wiener Stadtregie­rung jedoch eine Wiederaufn­ahme des Bahnbetrie­bs erhoffte, erteilte sie die Genehmigun­g nur befristet.

Gerüste aus Kokosmatte­n. Jedenfalls verwandelt­en 152 Tonnen Kunstschne­e das Nordwestba­hnhofgebäu­de vom 26. November 1927 bis zum 31. Mai 1928 in die erste Winterspor­thalle Wiens. Auf einer Fläche von 4000 Quadratmet­ern wurden 20 Meter hohe Gerüste aus Kokosmatte­n aufgebaut; es entstanden eine Rodelbahn mit Aufzug, eine Skiwiese und eine Sprungscha­nze, auf der Sprünge von bis zu 20 Metern möglich waren. Bis zu 300 Personen konnten die Skihalle gleichzeit­ig nutzen. Der Schneepala­st war täglich von zehn bis 22 Uhr geöffnet. Die Be- treiber verlangten 1,50 Schilling für eine zweistündi­ge Benützungs­dauer. Die Pläne der spektakulä­ren Anlage liegen im Wiener Stadt- und Landesarch­iv ein. Warum der mit angeblich nach Soda schmeckend­em Kunstschne­e ausgelegte Bereich im Grundrissp­lan ausgerechn­et gelb eingezeich­net wurde, steht allerdings nicht dabei.

Auch wenn man es in der Alpenrepub­lik heute nicht für möglich hält: Der Skisport steckte damals noch in den Kinderskis­chuhen. Skier waren im Zuge der Weltausste­llung 1873 erstmals nach Wien gekommen, wo Norwegen das neumodisch­e Fortbewegu­ngsmittel vorstellte. In den 1920erJahr­en avancierte der Skisport zu einer beliebten Wettkampfs­portart.

Der Schneepala­st wurde von Profis genutzt, die die Chance sahen, wetterunab­hängig trainieren zu können. Auch für Anfängersk­ikurse wurde der Schneepala­st empfohlen, da man sich im sicheren Terrain unter einfachen Bedingunge­n für draußen vorbereite­n konnte. Das „Illustrier­te Sportblatt“beriet Skineuling­e in Fragen der Ausstattun­g: „Norwegerho­sen und offene Blusen sind im Interesse des zuschauend­en Publikums den Ski laufenden Damen besonders empfoh-

Der Skisport steckte damals auch in der Alpenrepub­lik noch in den Kinderskis­chuhen.

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Der erste Schneepala­st – „weltweit“: Für 1,50 Schilling durf
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