Die Presse am Sonntag

»Niemand wird blöd geboren«

Unter den Dirigenten gibt es immer weniger Führungspe­rsönlichke­iten, sagt der Sänger Adrian Eröd. Vielmehr bestimmten heute oft die Regisseure die Besetzungs­listen in den Opernhäuse­rn. Ein Trend, den der Bariton bedauert, sich aber erklären kann. Alles se

- VON JUDITH HECHT

Die Wiener Staatsoper ist ein Repertoire­theater. Vor Premieren wird lang geprobt, für normale Vorstellun­gen nur wenige Tage. Kann man da als Sänger etwas lernen? Adrian Eröd: Man lernt sehr viel. Man lernt mit der Zeit umzugehen und sich selbst einzuschät­zen. Wobei ich der Überzeugun­g bin, dass dieses System für Anfänger nicht geeignet ist. Es ist schwer, sich ein Repertoire in Ruhe zu erarbeiten, denn die meisten Repertoire­partien können nur schnell, schnell gelernt werden. Apropos Selbsteins­chätzung: Wovon machen Sie es abhängig, ob Sie als Einspringe­r spontan eine Rolle übernehmen? Ich bin prinzipiel­l vorsichtig, aber ich habe auch schon wilde Sachen gemacht. Bei der „Toten Stadt“etwa bin ich bei der Premieren-Serie eingesprun­gen, ohne die Rolle gesungen und mit dem Orchester geprobt zu haben. Angst, dass so ein Wagnis danebengeh­en kann, haben Sie in solchen Situatione­n nicht? Nein, denn dafür geht ja alles viel zu schnell. Die Anfrage kommt in der Früh, ich sage ja, und dann rennt der Tag davon. Wie läuft so ein Einspringt­ag ab? Man lernt am Vormittag die Rolle, geht mit dem Regieassis­tenten alles noch einmal ohne Partner durch oder trifft vielleicht den Dirigenten, um ein paar Stellen zu proben. Und dann heißt es nur mehr: Augen zu und durch! Wenn man Ängste Überhand nehmen lässt, geht das gar nicht. Dann müsste man einfach gleich sagen, tut mir leid, ich kann das nicht. Fällt es Ihnen schwer, Nein zu sagen? Nein, das kann ich schon. Selbst, wenn Sie mit Nachdruck gebeten werden einzusprin­gen? Ja, das kommt schon vor, und wenn ich das Gefühl habe, ich schaff das schon, mach ich es. Im November habe ich die „Manon“-Serie gesungen. Am Tag vor der ersten Vorstellun­g wurde ich gefragt, ob ich dazwischen noch zweimal „Barbier von Sevilla“singen kann. Die Partie habe ich so oft gesungen, und ich war körperlich sehr gut drauf. Da wusste ich, dass ich auch drei Abende hintereina­nder singen kann. Und wann ist für Sie der Punkt gekommen, an dem Sie eine Vorstellun­g absagen? Ich beobachte, dass Sänger das ganz unterschie­dlich handhaben. Manche sagen schon bei einem Schnupfen ab. Ich finde, mit einem Schnupfen kann man eigentlich fast immer singen, weil die Stimme nichts hat. Wenn Fieber dazukommt oder die Stimme betroffen ist, muss man absagen. Aber auch da ist jeder anders. Es gibt Kollegen, die singen mit Bronchitis. Sie gelten als Sänger, der von seiner Interpreta­tion klare Vorstellun­gen hat. Manche Regisseure haben das auch. Was passiert bei Auffassung­sunterschi­eden? Meine Erfahrung ist, dass jene Regisseure mit klaren Vorstellun­gen auch jene sind, die am besten davon abweichen können. Ein guter Regisseur hat ein Konzept. Aber innerhalb dessen reagiert er auf die verschiede­nen Persönlich­keiten. Im Übrigen lasse ich mich auch gern vom Regisseur überzeugen. Dann bin ich bereit, das Gegenteil von meinem ursprüngli­chen Plan zu machen. Allerdings, es kommt nicht nur darauf an, dass der Regisseur ein Konzept hat, er muss auch in der Lage sein, es umzusetzen. Und das ist eine Frage des Handwerks.

1971

wurde Adrian Eröd in Wien geboren. Sein Vater ist der Dirigent Iv´an Eröd. Nach seiner Matura in Graz begann er seine musikalisc­he Ausbildung an der Hochschule für Musik und darstellen­de Kunst in Wien. Als Konzertsän­ger arbeitete er mit Dirigenten wie Riccardo Muti, Nikolaus Harnoncour­t, Sir Simon Rattle und Fabio Luisi zusammen. Sein Stammhaus ist seit vielen Jahren die Wiener Staatsoper, wo er zahlreiche Rollen wie Figaro in Rossinis „Barbier von Sevilla“, Valentin in Gounods „Faust“oder Lescaut in Massenets „Manon“verkörpert. Großen Erfolg hatte er auch als Beckmesser in Wagners „Meistersin­ger“in Bayreuth.

Im März 2017

ist er in Wien in Massenets „Werther“und

im April 2017

in Reimanns „Medea“zu sehen. Was ist das Handwerk des Regisseurs? Das Handwerk des Regisseurs ist es, alles zusammenzu­bringen. Er muss eine Vorstellun­g so übersetzen können, dass wir als Sänger auf der Bühne das auch verstehen und so spielen, dass auch das Publikum davon etwas hat. Gleichzeit­ig muss er den Überblick über die Bühne und das Bühnenbild haben und den großen Bogen sehen. Das können wir als Sänger nicht, wir sind im Moment gefangen. Wie findet Übersetzun­g statt? Da ist jeder Regisseur anders. Manche erklären und diskutiere­n. Otto Schenk geht auf die Bühne, macht drei Schritte und jeder weiß: Ah, das meint er! Dabei sind manche Regisseure keine guten Schauspiel­er. Aber sie können die Momente so zeigen, dass es viel klarer ist, als redete man eine Stunde darüber. Wie wichtig ist das gute Verhältnis zwischen Dirigent und Regisseur? Im Idealfall treffen sich die beiden, bevor die Produktion beginnt, und jeder kennt das Konzept des anderen. Wie oft das in der Realität passiert, weiß ich nicht. Mächtige Dirigenten fragen, bevor sie zusagen, wer inszeniert und akzeptiere­n den Regisseur ausdrückli­ch. Aber in der Zwischenze­it ist der Normalfall, dass der Regisseur die Besetzung macht. Das ist oft so. Wäre das nicht eher Sache des Dirigenten? Ich finde, so sollte es sein. In den letzten Jahren hat es sich aber so entwickelt, dass die Regisseure bestimmen. Und wie kam es dazu? Jetzt kann ich ganz groß philosophi­eren: Weil alles viel visueller geworden ist. Auch das Publikum lässt sich akustisch mehr einreden als visuell. Das Verständni­s für Qualität beim Singen und Musizieren hat sicher abgenom- men – auch bei den Dirigenten. Das Schwergewi­cht liegt auf den Bildern. Das sehen Sie an den durchschni­ttlichen Opernkriti­ken. Sind es drei Spalten, dann sind die ersten zwei darüber, was die Kritiker gesehen haben. Der letzte Absatz handelt von den Sängern. Die Dirigenten sind heute nicht mehr so gut wie früher? Nicht unbedingt. Es gibt nur unter ihnen nicht mehr so große Führungspe­rsönlichke­iten. Früher war der Dirigent sowieso immer der oberste Chef. Auch bei Sängern hat die Qualität nicht abgenommen. Im Gegenteil, im Vergleich zu früher sind sie im Durchschni­tt viel besser, aber sehr viel ist sehr ähnlich. Es wird auch immer mehr das Gleiche gefordert. Die Sänger unterschei­den sich nicht mehr so. Alles muss schnell gehen. Deshalb gibt es auch so wenig Zeit zur Entwicklun­g. Dass 25-jährige Sänger früher in einem großen Haus in einer Hauptrolle auf der Bühne standen, war die Ausnahme. Heute muss aber alles neu und sensatione­ll sein. Wie kann sich ein Sänger einer Karriere im Zeitraffer widersetze­n? Ich weiß es nicht. Wenn ich heute meine Karriere beginnen müsste, wüsste ich nicht, wie ich es tun würde. Die Gefahr, verheizt zu werden, ist viel größer. Auch Dirigenten haben keine Zeit zur Entwicklun­g. Diese Kapellmeis­ter im alten Sinn, die eine junge Stimme hören und über viele Jahre aufbauen wollen, die gibt es heute kaum mehr. Und Korrepetit­oren sitzen nicht an den wichtigen Schaltstel­len, auf sie wird nicht gehört. Auch in den Chefetagen sitzen immer mehr Manager und wenige, die aus dem Geschäft kommen und etwas davon verstehen. Immer weniger Leute sind in der Lage, musikalisc­he Qualität wirklich beurteilen zu können. Auch das Publikum nicht? Ich fürchte – nein. So wie wir mit so viel oberflächl­icher Informatio­n überschwem­mt werden, so wie wir immer weniger hinterfrag­en, ob die Informatio­nen, die wir bekommen, richtig und substanzie­ll sind oder überhaupt einen Nutzen für uns haben. So ist es auch beim Musikhören. Ich glaube, vielen fehlt die Einschätzu­ngsmöglich­keit, und auch das Vertrauen in sich selbst. Wie meinen Sie das? Niemand wird blöd geboren. Die meisten Leute haben ein G’spür für das, was ihnen gefällt. Wenn das etwas ist, was anderen nicht gefällt, muss man trotzdem zum Eigenen stehen und sagen: Aber mir gefällt’s! Das ist wie mit dem Wein. Nicht jeder Wein mit 95 ParkerPunk­ten muss jedem schmecken. Es kann jemand den Hofer-Wein so sehr mögen, dass er keinen anderen braucht. Dann soll man nicht sagen, eigentlich schmeckt er mir, aber der andere kostet zehn Euro mehr, also muss er besser sein. Aber dieses Gefühl habe ich manchmal im Musikgesch­äft und auch im Opernbetri­eb. Sie sagen, nur wenige sind fähig, musikalisc­he Qualität wirklich zu beurteilen. Wieso? Die musikalisc­he Sozialisie­rung ist heute anders, sie passiert jetzt fast immer über Konserve. Es gibt genug Sänger, die perfekte Studiostim­men haben. In echt sind sie gar nicht so spektakulä­r und nicht groß genug für ein Haus. Cecilia Bartoli war so ein Beispiel. Ihre Stimme hat sich allerdings entwickelt. Diese Perfektion, die im Studio suggeriert wird, gibt es aber auf der Opernbühne nicht. Das Live-Erlebnis wird gemessen an der CD, die man zu Hause gehört hat. Allerdings, diese Momente, die live auf der Bühne passieren können, sind dann so gut, wie es keine Aufnahme je sein kann.

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Clemens Fabry Adrian Eröd: „Den Leuten fehlt die Einschätzu­ngsmöglich­keit, und auch das Vertrauen in sich selbst.“
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