Die Presse am Sonntag

Die türkische Schicksals­wahl

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det. Die häufigen Terroransc­hläge haben jedoch ihre Spuren hinterlass­en. Als vor ziemlich genau einem Jahr, am 19. März, ein mutmaßlich­er Islamist in der Einkaufsme­ile ein Selbstmord­attentat verübte, hatte Özcan Leichentei­le auf dem Fensterbre­tt. Für das Chaos, den Terror und nicht zuletzt die schwächeln­de Wirtschaft, herunterge­brochen auf die Istiklal Caddesi, macht er die regierende AKP verantwort­lich. „Die AKP hat die sunnitisch-islamistis­che Gruppe großgemach­t“, sagt er.

Bekir Özcan ist Lokalpolit­iker der kemalistis­chen CHP. Sein Büro befindet sich mitten auf der Istiklal Caddesi, der Parteienve­rkehr ist stark, und dieser Tage ist es das Referendum, das die Bürobesuch­er umtreibt. Am 16. April entscheide­t die Türkei darüber, ob eine Präsidialr­epublik eingeführt werden soll, die Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ mit ordentlich Macht ausstatten würde. Die AKP fährt alle Geschütze auf, um für ein Ja zu werben. Die Opposition bleibt aber auch nicht untätig. Kuriose Symbiose. „Zu mir kommen jetzt Leute und fragen, wie sie unsere Nein-Kampagne unterstütz­en können“, erzählt Özcan; es handelt sich um Vertreter des zerfledder­ten linken Lagers, die sich sonst nicht mit der CHP abgeben würden. Tatsächlic­h hat die Nein-Kampagne in den vergangene­n Wochen kuriose Symbiosen geschaffen: Linksextre­me und Sozialdemo­kraten, Rechtsextr­eme und Kurden, Laizisten und Altnationa­listen, sie alle eint das Ansinnen, die Türkei nicht in einen auf Erdogan˘ zugeschnit­tenen Staat zu verwandeln. Die Verfassung­sänderung sieht unter anderem vor, dass der Präsident per Dekret regieren kann, ohne vorher die Zustimmung des Parlamente­s einholen zu müssen. Das Amt des Premiers wird Makulatur, der Staatschef entscheide­t über die Besetzung der bürokratis­chen Schlüssels­tellen.

Die AKP argumentie­rt, dass mit dem neuen System die lähmenden Koalitione­n endlich ein Ende finden würden. Sie verspricht Stabilität, Aufschwung, ein Ende des Terrors wie auf der Istiklal Caddesi. Aber dort sitzt Özcan in seinem mit schweren Möbeln ausgestatt­eten Büro und fragt: „Was ist passiert in den Ländern, in denen ein Mann zu viel und zu lange Macht hatte? Saddam, Assad, Mubarak?“

Die AKP mag selbstsich­er in diesen Wahlkampf gegangen sein, aber die Voraussetz­ungen haben sich geändert. Ihre Unterstütz­er im Parlament, die ultranatio­nalistisch­e MHP, sind in der Referendum­sfrage gespalten. Wiewohl sich Parteichef Devlet Bahceli¸ für ein Ja ausgesproc­hen hat, formierte sich innerhalb der MHP lautstark ein AntiErdoga­n-˘Lager. Jüngst hat die Partei vier Mitglieder hinauskomp­lementiert, weil sie für ein Nein lobbyierte­n.

Und die Stimmen der AKP-Stammwähle­rschaft sind auch keine ausgemacht­e Sache. Viele Bürger verstehen nicht, warum die AKP nach mehr Macht strebt, wenn sie ohnehin allein regiert. Die Verfassung grundlegen­d zu ändern hieße auch, Atatürks Republik umzupflüge­n – und das ist selbst für Teile der AKP-Basis eine unerhörte

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AFP Recep Tayyip Erdo˘gan wirbt für eine Präsidialr­epublik.
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