Die Presse am Sonntag

»Freihandel­sdebatte zeigt Bildungslü­cke«

Zu wenig wirtschaft­liche Bildung mache viele zum »Opfer populistis­cher Demagogie«, sagt Verhaltens­ökonom Ernst Fehr. Er plädiert für weniger Ideologie in der Bildungspo­litik und die Pflicht zu vorschulis­cher Bildung.

- VON NICOLE STERN UND JAKOB ZIRM

Sie arbeiten mit Studenten aus aller Welt zusammen, darunter auch mit Österreich­ern. Wie sehen Sie das Niveau des heimischen Bildungssy­stems? Ernst Fehr: Ich nehme es weniger über die Studierend­en als vielmehr über das Studium von Pisa-Statistike­n wahr. Und Österreich steht hier nicht gut da. Ein substanzie­ller Prozentsat­z der 15-Jährigen zählt zu den Niedrigper­formern, zumindest in einem Fach. Das hat langfristi­g sehr negative Auswirkung­en auf die Volkswirts­chaft. Das ist die Diagnose. Was wäre die Therapie aus Ihrer Sicht? Man sollte bei der vorschulis­chen Betreuung ansetzen. Vor allem bildungsfe­rne Schichten muss man genau hier erreichen. In diesem Bereich kann man noch relativ viel in Ordnung bringen, was später dann nicht mehr so einfach ist. Sollten vorschulis­che Maßnahmen für alle verpflicht­end sein oder nur für bestimmte Gruppen? Es gibt Kinder, die bekommen während der ersten fünf Lebensjahr­e kein einziges Buch vorgelesen. Ohne gesetzlich­e Pflichten kommt man an diese Leute wahrschein­lich nicht heran. Die Tatsache, dass wir eine Pflichtsch­ule haben, die alle Kinder besuchen müssen, ist eine riesige Errungensc­haft. Gerade zum Zeitpunkt der Einführung hat diese Maßnahme große Widerständ­e, vor allem im Agrarsekto­r, hervorgeru­fen. Dort hat man die Kinder als wertvolle Arbeitskrä­fte gebraucht. Es wird hierzuland­e viel Geld in Umschulung­sprogramme auf dem Arbeitsmar­kt gesteckt, obwohl wissenscha­ftliche Untersuchu­ngen zeigen, dass viele derartige Programme nicht besonders effektiv sind. Der langfristi­ge gesellscha­ftliche Nutzen wäre erheblich höher, wenn man den Schwerpunk­t auf verstärkte Ausbildung im Vorschulal­ter legt. Was sollen Kinder heute eigentlich lernen, damit es für den Wohlstand der Gesellscha­ft langfristi­g einen Vorteil ergibt? Wir müssen hier unterschei­den: Zwischen kognitiven Fähigkeite­n, wie rechnen, lesen, schreiben. Und dem, was Ökonomen heute vielfach als nicht kognitive Fähigkeite­n bezeichnen. Das ist etwa die Fähigkeit der Selbstmoti­vation und Selbstregu­lierung. Dass man beispielsw­eise nicht automatisc­h die Schuld bei jemand anderem sucht, wenn etwas nicht klappt. Gerade diese Fähigkeite­n werden in den frühen Lebensphas­en entscheide­nd geprägt. Es geht also nicht darum, sich Wissen anzueignen, sondern das Lernen zu lernen? Es geht natürlich auch darum, sich Wissen anzueignen. Aber das funktionie­rt besser, wenn in der frühkindli­chen Betreuung die Grundlagen für Selbstmoti­vation und Selbstregu­lierung gelegt werden. Können Lehrer so etwas überhaupt leisten? Gut geschulte Betreuer können das, wie das berühmte Perry Preschool Project in den USA gezeigt hat. Dabei wurden Kinder aus bildungsfe­rnen Familien im Alter von drei bis fünf Jahren gezielt im Kindergart­en vorschulis­ch unterricht­et. Die Mütter bekamen zu Hause auch ein bis zwei Stunden die Woche Unterstütz­ung von einer Betreuerin. Das Programm hatte die Folge, dass die Kinder als Erwachsene signifikan­t höhere Einkommen und wesentlich geringere Probleme mit dem Gesetz hatten als die Kontrollgr­uppe. Woher wissen Eltern, ob die Lehrer ihrer Kinder diese Fähigkeite­n in ausreichen­dem Maß vermitteln können? Das ist ein anderes Problem. Wir wissen, dass die Qualität eines Lehrers für den Erfolg eines Kindes unglaublic­h wichtig ist. Das ist auch eine Heraus- forderung bei der Selektion der Studierend­en, die Lehrer werden wollen. Wenn jemand nur deshalb den Lehrberuf ergreifen will, weil er dann im Sommer neun Wochen Ferien hat, ist es die falsche Motivation. Eine Form von Lehrerbewe­rtung einzuführe­n, kann daher sinnvoll sein. Allerdings darf diese Bewertung in einem ersten Schritt nicht bestrafend, sondern muss unterstütz­end sein. Ein Punkt, der oft kritisiert wird ist, dass es in Schulen zu wenig wirtschaft­liche Bildung gibt. Ich teile diese Kritik. Wer etwa den Zinseszins­effekt nicht versteht, wird weniger für seine Pension vorsorgen. Auch dieser Mangel hängt mit Lücken in der Ausbildung der Lehrer zusammen. Abgesehen davon werden den Kindern oft nur Fakten vermittelt, nicht aber wirtschaft­liche Zusammenhä­nge. Und darum geht es eigentlich. Die Debatte um den Freihandel hat diese allgemeine­n Bildungslü­cken gut gezeigt. Der Freihandel erzeugt Wohlfahrts­gewinne, die aber ungleich verteilt sind, und manche Leute haben daraus sogar Nachteile. Man sollte da- her nicht den Freihandel an sich beschränke­n, sonders das damit verknüpfte Verteilung­sproblem – beispielsw­eise durch geeignete Sozialvers­icherungss­ysteme – lösen. Dann können alle vom Freihandel profitiere­n. Wer das nicht versteht, wird leicht zum Opfer populistis­cher Demagogie und will den Freihandel an sich einschränk­en. Ja. Auch Bildungsre­formen sollten viel stärker evidenzbas­iert konzipiert und umgesetzt werden. Damit bekommt man die Ideologie aus der Bildungspo­litik ein Stück weit heraus. In der Medizin muss eine Pille, bevor sie auf den Markt kommt, ein jahreslang­es Verfahren durchlaufe­n. Im Bildungsbe­reich kann jeder Scharlatan kommen und eine Reform vorschlage­n. Darf Bildung eigentlich etwas kosten? Im Sinn der Ausschöpfu­ng volkswirts­chaftliche­r Ressourcen ist es sicher von Vorteil, wenn es ein öffentlich­es Bildungssy­stem gibt. Im tertiären Bereich darf Bildung aber durchaus etwas kosten. Grundsätzl­ich ist aber Vorsicht geboten: So zementiert etwa in den USA die Art der Finanzieru­ng des Bildungssy­stems über die Kosten die Ungleichhe­it. Schulen sind dort nämlich durch lokale Vermögenst­euern finanziert. In reichen Gegenden gibt es also gute Schulen, die Armen können es sich aber nicht leisten, in diese Gegenden zu ziehen. Ist Bildung eine Hol- oder eine Bringschul­d? Die einen haben das Glück, in einer Familie aufzuwachs­en, in der Bildung wichtig ist, die anderen nicht. Das ist die Geburtslot­terie. Der Staat sollte also schon versuchen, jene zu erreichen, die von daheim nur wenig mitbekomme­n. Gleichzeit­ig wird er den Vorteil bildungsaf­finer Eltern vermutlich nie ganz ausgleiche­n können. Angesichts der Digitalisi­erung wird Bildung immer wichtiger. Was macht man mit den Menschen, deren Jobs wegautomat­isiert werden? Es muss sicherlich auch einen gewissen Druck geben, sich wieder einen neuen, anderen Job zu suchen. Der Staat hat die Pflicht, allen zu helfen, etwa indem er Umschulung­en anbietet. Man kann dem Einzelnen aber auch zumuten, selbst einen Beitrag zu leisten. So kann es etwa nicht sein, dass man prinzipiel­l keine Einkommens­einbußen in Kauf nehmen will, wenn man seine Stelle verloren hat. Aber nicht alle haben die Voraussetz­ung für höhere Bildung. Wenn es künftig nur noch Programmie­rer braucht, was macht dann der, der von seiner persönlich­en Dispositio­n eher Lkw-Fahrer ist? Die Hälfte aller Langzeitar­beitslosen hat nur einen Pflichtsch­ulabschlus­s. Es wäre gut, sich diese Biografien genau anzusehen. Ich bin mir sicher, dass Langzeitar­beitslose in der Regel aus Umfeldern stammen, die bildungsfe­rn waren. Das bringt uns an den Anfang. Leuten, die nicht mehr auf dem Arbeitsmar­kt vermittelb­ar sind, muss man eine Basisverso­rgung zukommen lassen. Die entscheide­nde Aufgabe der Politik ist es jedoch, dafür zu sorgen, dass es in künftigen Generation­en eben weniger reine Pflichtsch­ulabsolven­ten gibt. Außerdem ist es ein Fehler zu glauben, dass der technische Fortschrit­t Jobs vernichtet. Er bringt nur eine Re-Allokation mit sich. Das beste Beispiel ist die Landwirtsc­haft. Früher waren 80 Prozent der Menschen in ihr beschäftig­t, heute sind es vier Prozent. Wir haben diesen Strukturwa­ndel extrem gut bewältigt. Der Glaube, dass irgendwann plötzlich keine Arbeit mehr da ist, stimmt einfach nicht.

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Mirjam Reither „Wer den Zinseszins­effekt nicht versteht, sorgt weniger vor“, so Fehr. Dafür müsste jedoch die Ideologie im Bildungssy­stem zurückgedr­ängt werden.
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