»Freihandelsdebatte zeigt Bildungslücke«
Zu wenig wirtschaftliche Bildung mache viele zum »Opfer populistischer Demagogie«, sagt Verhaltensökonom Ernst Fehr. Er plädiert für weniger Ideologie in der Bildungspolitik und die Pflicht zu vorschulischer Bildung.
Sie arbeiten mit Studenten aus aller Welt zusammen, darunter auch mit Österreichern. Wie sehen Sie das Niveau des heimischen Bildungssystems? Ernst Fehr: Ich nehme es weniger über die Studierenden als vielmehr über das Studium von Pisa-Statistiken wahr. Und Österreich steht hier nicht gut da. Ein substanzieller Prozentsatz der 15-Jährigen zählt zu den Niedrigperformern, zumindest in einem Fach. Das hat langfristig sehr negative Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Das ist die Diagnose. Was wäre die Therapie aus Ihrer Sicht? Man sollte bei der vorschulischen Betreuung ansetzen. Vor allem bildungsferne Schichten muss man genau hier erreichen. In diesem Bereich kann man noch relativ viel in Ordnung bringen, was später dann nicht mehr so einfach ist. Sollten vorschulische Maßnahmen für alle verpflichtend sein oder nur für bestimmte Gruppen? Es gibt Kinder, die bekommen während der ersten fünf Lebensjahre kein einziges Buch vorgelesen. Ohne gesetzliche Pflichten kommt man an diese Leute wahrscheinlich nicht heran. Die Tatsache, dass wir eine Pflichtschule haben, die alle Kinder besuchen müssen, ist eine riesige Errungenschaft. Gerade zum Zeitpunkt der Einführung hat diese Maßnahme große Widerstände, vor allem im Agrarsektor, hervorgerufen. Dort hat man die Kinder als wertvolle Arbeitskräfte gebraucht. Es wird hierzulande viel Geld in Umschulungsprogramme auf dem Arbeitsmarkt gesteckt, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass viele derartige Programme nicht besonders effektiv sind. Der langfristige gesellschaftliche Nutzen wäre erheblich höher, wenn man den Schwerpunkt auf verstärkte Ausbildung im Vorschulalter legt. Was sollen Kinder heute eigentlich lernen, damit es für den Wohlstand der Gesellschaft langfristig einen Vorteil ergibt? Wir müssen hier unterscheiden: Zwischen kognitiven Fähigkeiten, wie rechnen, lesen, schreiben. Und dem, was Ökonomen heute vielfach als nicht kognitive Fähigkeiten bezeichnen. Das ist etwa die Fähigkeit der Selbstmotivation und Selbstregulierung. Dass man beispielsweise nicht automatisch die Schuld bei jemand anderem sucht, wenn etwas nicht klappt. Gerade diese Fähigkeiten werden in den frühen Lebensphasen entscheidend geprägt. Es geht also nicht darum, sich Wissen anzueignen, sondern das Lernen zu lernen? Es geht natürlich auch darum, sich Wissen anzueignen. Aber das funktioniert besser, wenn in der frühkindlichen Betreuung die Grundlagen für Selbstmotivation und Selbstregulierung gelegt werden. Können Lehrer so etwas überhaupt leisten? Gut geschulte Betreuer können das, wie das berühmte Perry Preschool Project in den USA gezeigt hat. Dabei wurden Kinder aus bildungsfernen Familien im Alter von drei bis fünf Jahren gezielt im Kindergarten vorschulisch unterrichtet. Die Mütter bekamen zu Hause auch ein bis zwei Stunden die Woche Unterstützung von einer Betreuerin. Das Programm hatte die Folge, dass die Kinder als Erwachsene signifikant höhere Einkommen und wesentlich geringere Probleme mit dem Gesetz hatten als die Kontrollgruppe. Woher wissen Eltern, ob die Lehrer ihrer Kinder diese Fähigkeiten in ausreichendem Maß vermitteln können? Das ist ein anderes Problem. Wir wissen, dass die Qualität eines Lehrers für den Erfolg eines Kindes unglaublich wichtig ist. Das ist auch eine Heraus- forderung bei der Selektion der Studierenden, die Lehrer werden wollen. Wenn jemand nur deshalb den Lehrberuf ergreifen will, weil er dann im Sommer neun Wochen Ferien hat, ist es die falsche Motivation. Eine Form von Lehrerbewertung einzuführen, kann daher sinnvoll sein. Allerdings darf diese Bewertung in einem ersten Schritt nicht bestrafend, sondern muss unterstützend sein. Ein Punkt, der oft kritisiert wird ist, dass es in Schulen zu wenig wirtschaftliche Bildung gibt. Ich teile diese Kritik. Wer etwa den Zinseszinseffekt nicht versteht, wird weniger für seine Pension vorsorgen. Auch dieser Mangel hängt mit Lücken in der Ausbildung der Lehrer zusammen. Abgesehen davon werden den Kindern oft nur Fakten vermittelt, nicht aber wirtschaftliche Zusammenhänge. Und darum geht es eigentlich. Die Debatte um den Freihandel hat diese allgemeinen Bildungslücken gut gezeigt. Der Freihandel erzeugt Wohlfahrtsgewinne, die aber ungleich verteilt sind, und manche Leute haben daraus sogar Nachteile. Man sollte da- her nicht den Freihandel an sich beschränken, sonders das damit verknüpfte Verteilungsproblem – beispielsweise durch geeignete Sozialversicherungssysteme – lösen. Dann können alle vom Freihandel profitieren. Wer das nicht versteht, wird leicht zum Opfer populistischer Demagogie und will den Freihandel an sich einschränken. Ja. Auch Bildungsreformen sollten viel stärker evidenzbasiert konzipiert und umgesetzt werden. Damit bekommt man die Ideologie aus der Bildungspolitik ein Stück weit heraus. In der Medizin muss eine Pille, bevor sie auf den Markt kommt, ein jahreslanges Verfahren durchlaufen. Im Bildungsbereich kann jeder Scharlatan kommen und eine Reform vorschlagen. Darf Bildung eigentlich etwas kosten? Im Sinn der Ausschöpfung volkswirtschaftlicher Ressourcen ist es sicher von Vorteil, wenn es ein öffentliches Bildungssystem gibt. Im tertiären Bereich darf Bildung aber durchaus etwas kosten. Grundsätzlich ist aber Vorsicht geboten: So zementiert etwa in den USA die Art der Finanzierung des Bildungssystems über die Kosten die Ungleichheit. Schulen sind dort nämlich durch lokale Vermögensteuern finanziert. In reichen Gegenden gibt es also gute Schulen, die Armen können es sich aber nicht leisten, in diese Gegenden zu ziehen. Ist Bildung eine Hol- oder eine Bringschuld? Die einen haben das Glück, in einer Familie aufzuwachsen, in der Bildung wichtig ist, die anderen nicht. Das ist die Geburtslotterie. Der Staat sollte also schon versuchen, jene zu erreichen, die von daheim nur wenig mitbekommen. Gleichzeitig wird er den Vorteil bildungsaffiner Eltern vermutlich nie ganz ausgleichen können. Angesichts der Digitalisierung wird Bildung immer wichtiger. Was macht man mit den Menschen, deren Jobs wegautomatisiert werden? Es muss sicherlich auch einen gewissen Druck geben, sich wieder einen neuen, anderen Job zu suchen. Der Staat hat die Pflicht, allen zu helfen, etwa indem er Umschulungen anbietet. Man kann dem Einzelnen aber auch zumuten, selbst einen Beitrag zu leisten. So kann es etwa nicht sein, dass man prinzipiell keine Einkommenseinbußen in Kauf nehmen will, wenn man seine Stelle verloren hat. Aber nicht alle haben die Voraussetzung für höhere Bildung. Wenn es künftig nur noch Programmierer braucht, was macht dann der, der von seiner persönlichen Disposition eher Lkw-Fahrer ist? Die Hälfte aller Langzeitarbeitslosen hat nur einen Pflichtschulabschluss. Es wäre gut, sich diese Biografien genau anzusehen. Ich bin mir sicher, dass Langzeitarbeitslose in der Regel aus Umfeldern stammen, die bildungsfern waren. Das bringt uns an den Anfang. Leuten, die nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind, muss man eine Basisversorgung zukommen lassen. Die entscheidende Aufgabe der Politik ist es jedoch, dafür zu sorgen, dass es in künftigen Generationen eben weniger reine Pflichtschulabsolventen gibt. Außerdem ist es ein Fehler zu glauben, dass der technische Fortschritt Jobs vernichtet. Er bringt nur eine Re-Allokation mit sich. Das beste Beispiel ist die Landwirtschaft. Früher waren 80 Prozent der Menschen in ihr beschäftigt, heute sind es vier Prozent. Wir haben diesen Strukturwandel extrem gut bewältigt. Der Glaube, dass irgendwann plötzlich keine Arbeit mehr da ist, stimmt einfach nicht.