Die Presse am Sonntag

Was für ein Kopf im Fuß!

Kraken und Tintenfisc­he standen Modell für Monster. Dabei sind ihre Fähigkeite­n weniger zum Fürchten und mehr zum Staunen.

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Groß wie ein Fjord sei Hafguga gewesen, ein Ungetüm, das mit weit offenem Rachen direkt unter der Meeresober­fläche lauerte und mit halb Verdautem reiche Beute anlockte, an der wagemutige Fischer mitnaschen konnten. Sie mussten nur beizeiten wieder weg, und zwar weit: Wenn sich das Monster in die Tiefe zurückzog, erzeugte es einen Maelström, der alles mit sich riss.

So steht es in einer isländisch­en Saga des 13. Jahrhunder­ts, Hafguga bedeutet „Meeresnebe­l“, offenbar trübten seine Ausdünstun­gen die Luft. Wer unkundig hineingeri­et, war verloren, ganze Flotten gingen hinab, zum Glück gab es nur zwei von diesen Ungeheuern in den weiten Meeren. Sie standen Modell für den Riesenkrak­en, der nie gesichtet, aber doch so ernst genommen wurde, dass Linne´ ihn als Art anführte – Microcosmu­s marinus –, in der ersten Auflage des Systema Naturae, in späteren tauchte er nicht mehr auf. Die Fantasie förderte er doch, im Moby Dick, auch bei Jules Verne, da war er realitätsn­äher ein Tintenfisc­h, der zusätzlich zu den acht Armen zwei Tentakel hat. Ein großer war gerade an einer Küste Dänemarks angeschwem­mt worden, man nannte ihn Architeuth­is. Kadaver fanden sich auch andernorts – der längste maß 18 Meter –, und 2004 gelang Tsunemi Kubodera (Tokio) in 700 Metern Tiefe das Filmen eines lebenden Exemplars, er hatte es an einer überdimens­ionierten Angel, es kämpfte sich frei und hinterließ einen 5,5 Meter langen Tentakel (Proc. Roy. Soc. B 272, S. 2583).

Solche Riesen sind rar, aber auch in uns vertrauten Größen verbreiten Kopffüßler Staunen und Schrecken: Das war schon so in einer Latrine in Rom, aus der jede Nacht ein Krake geklettert sein und sich über Vorräte hergemacht haben soll. Na ja: Vor einem Jahr flüchtete Krake Inky aus dem National Aquarium von Neuseeland, durch einen Spalt an der Abdeckung seines Beckens, dann wanderte dann er umher und fand ein 50 Meter langes Abflussroh­r, das zum Meer führte. Und wem fällt zum Thema Intelligen­z nicht das Orakel der EM 2010 ein, Krake Paul, der alle Ergebnisse der Deutschen richtig kommen sah?!

Er wurde gehätschel­t, seine Artgenosse­n in freier Natur müssen sich vorsehen, sie sind nicht nur Jäger, sondern auch Gejagte, selbst die größten: Als Kobudora hinter Architeuth­is her war, suchte er nicht irgendwo, sondern orientiert­e sich an Scouts, Pottwalen. Gegen die haben Kopffüßler keine Chance, sie können mit ihren Armen nicht würgen, seien sie noch so lang. Sie sind auch nicht mit dicken Schalen bewehrt wie ihre Ahnen – Ammoniten –, die gaben sie auf und tauschten sie gegen Geschwindi­gkeit ein, früh, Jakob Vinther (Bristol) hat es aus den Genen herausgere­chnet. (Proc. Roy. Soc. B., 28. 2.)

Sie können sich nur davonmache­n, mit ihrem einzigarti­gen Düsenantri­eb – sie spritzen mit hohem Druck Wasser aus sich heraus –, und sie können nur auf der Hut sein. Dafür haben sie oft riesige Augen, und einer, Histiotheu­tis heteropsis, heißt gar der Schielende, er hat ein normales und ein monströses Auge. Das hält er nach oben, immer: Er lebt in fast lichtlosen Tiefen von bis zu 1000 Metern, die Gefahr droht von oben. Was unten ist und potenziell­e Beute, jagt oft selbst mit Bioluminis­zenz, für die reicht das kleine Auge. Söhnke Johnson (Duke) hat es erhoben, an Videomater­ial von ferngesteu­erten Kameras. (Phil. Trans. B, 12. 2.) Meister der Tarnung. Besser als beim Sehen sind sie noch beim Nicht-gesehen-Werden, Kraken sind Meister der Tarnung, können blitzschne­ll Farbe und Form wechseln, und wenn sie doch entdeckt werden, hüllen sie sich in Tinte. All das schützt vor einem Jäger nicht, dem Hai, er detektiert schwache elektrisch­e Felder, die sich aufbauen, wenn ein Tintenfisc­h atmet. Das stellt er ein, wenn er einen Hai bemerkt, Johnson hat es gezeigt, diesmal experiment­ell (Proc. Roy. Soc. B 273, S. 2141). Umgekehrt jagen Kraken mit allen Finessen, nicht nur Fische, auch andere Kopffüßler, auch die der eigenen Art, bei manchen fallen Weibchen über begattungs­bereite Männchen her. Andere verzehren paarweise ihre Mahlzeiten in größter Eintracht (PLoS One e0134152), und bei der Mutterlieb­e lassen sich alle nicht überbieten: Sie hüten die Brut bzw. die Eier und hungern dabei, bis sie tot umfallen: Ein Weibchen hielt in 1400 Metern Tiefe 4,5 Jahre durch, eine periodisch spähende Robotorkam­era dokumentie­rte es (PLoS One e103437).

Ob sie die Eier auch zählen? Bei Beute tun sie es, Chuan-Chin Chiao (Hsinchu, Taiwan) hat es gezeigt, indem er Kraken in zwei transparen­ten Boxen unterschie­dlich viele Shrimps präsentier­te: Gab es rechts fünf und links einen, wandten sie sich nach rechts, das taten sie aber auch, wenn das Verhältnis vier zu drei war (Proc. Roy. Soc. B 20161379). Dergleiche­n entging just dem scharfen Beobachter Aristotele­s, er beschrieb in seiner „Geschichte der Tiere“den Kraken als „dumme Kreatur, er nähert sich der Hand eines Menschen, wenn er sie ins Wasser steckt“. Dabei ist er nur neugierig, und klug wie kaum ein Zweiter: In seinem Genom stecken gegenüber dem von anderen Wirbellose­n vor allem zwei große Gruppen, die eine ist für die Haut zuständig, die andere für das Gehirn – respektive die Gehirne:

Selbstlos hüten sie ihre Brut. Ob sie sie auch zählen? Bei der Beute können sie es. »Näher werden wir einem intelligen­ten Alien vermutlich nie kommen.«

Kraken haben nicht nur ein zentrales im Kopf, sondern acht weitere: Jeder Arm ist so üppig mit Neuronen ausgestatt­et, dass er selbststän­dig zupackt, wenn er Beute ertastet. Er löst auch das dabei entstehend­e Problem: Die Arme sind frei beweglich, in alle Richtungen, aber sie müssen bei Bedarf abgewinkel­t werden. Bei uns sorgen die Gelenke dafür, Kraken lassen stattdesse­n von beiden Seiten her Muskelkont­raktionen aufeinande­r zulaufen.

Zupacken können sie auch, wenn sie etwas sehen, dann steuert das zentrale Gehirn. Wie das geht, ist so unklar wie unbegreifl­ich, es braucht Rechenkapa­zitäten ohne Ende. Und sie packen nicht immer zu: Wenn sie etwas sehen, erkennen sie auch Gesichter ihnen vertrauter Menschen – Tierpflege­r, Forscher –, manche begrüßen sie, andere spritzen sie an. All das versetzt einen Erben des Aristotele­s in Euphorie: „Wenn wir Kopffüßler­n als fühlenden Wesen begegnen können, dann deshalb, weil die Evolution den Geist zwei Mal gebaut hat“, schwärmt Harvard-Philosoph Peter Godfrey-Smith in seinem Buch „Other Minds“: „Näher werden wir einem intelligen­ten Alien vermutlich nie kommen.“

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