Was für ein Kopf im Fuß!
Kraken und Tintenfische standen Modell für Monster. Dabei sind ihre Fähigkeiten weniger zum Fürchten und mehr zum Staunen.
Groß wie ein Fjord sei Hafguga gewesen, ein Ungetüm, das mit weit offenem Rachen direkt unter der Meeresoberfläche lauerte und mit halb Verdautem reiche Beute anlockte, an der wagemutige Fischer mitnaschen konnten. Sie mussten nur beizeiten wieder weg, und zwar weit: Wenn sich das Monster in die Tiefe zurückzog, erzeugte es einen Maelström, der alles mit sich riss.
So steht es in einer isländischen Saga des 13. Jahrhunderts, Hafguga bedeutet „Meeresnebel“, offenbar trübten seine Ausdünstungen die Luft. Wer unkundig hineingeriet, war verloren, ganze Flotten gingen hinab, zum Glück gab es nur zwei von diesen Ungeheuern in den weiten Meeren. Sie standen Modell für den Riesenkraken, der nie gesichtet, aber doch so ernst genommen wurde, dass Linne´ ihn als Art anführte – Microcosmus marinus –, in der ersten Auflage des Systema Naturae, in späteren tauchte er nicht mehr auf. Die Fantasie förderte er doch, im Moby Dick, auch bei Jules Verne, da war er realitätsnäher ein Tintenfisch, der zusätzlich zu den acht Armen zwei Tentakel hat. Ein großer war gerade an einer Küste Dänemarks angeschwemmt worden, man nannte ihn Architeuthis. Kadaver fanden sich auch andernorts – der längste maß 18 Meter –, und 2004 gelang Tsunemi Kubodera (Tokio) in 700 Metern Tiefe das Filmen eines lebenden Exemplars, er hatte es an einer überdimensionierten Angel, es kämpfte sich frei und hinterließ einen 5,5 Meter langen Tentakel (Proc. Roy. Soc. B 272, S. 2583).
Solche Riesen sind rar, aber auch in uns vertrauten Größen verbreiten Kopffüßler Staunen und Schrecken: Das war schon so in einer Latrine in Rom, aus der jede Nacht ein Krake geklettert sein und sich über Vorräte hergemacht haben soll. Na ja: Vor einem Jahr flüchtete Krake Inky aus dem National Aquarium von Neuseeland, durch einen Spalt an der Abdeckung seines Beckens, dann wanderte dann er umher und fand ein 50 Meter langes Abflussrohr, das zum Meer führte. Und wem fällt zum Thema Intelligenz nicht das Orakel der EM 2010 ein, Krake Paul, der alle Ergebnisse der Deutschen richtig kommen sah?!
Er wurde gehätschelt, seine Artgenossen in freier Natur müssen sich vorsehen, sie sind nicht nur Jäger, sondern auch Gejagte, selbst die größten: Als Kobudora hinter Architeuthis her war, suchte er nicht irgendwo, sondern orientierte sich an Scouts, Pottwalen. Gegen die haben Kopffüßler keine Chance, sie können mit ihren Armen nicht würgen, seien sie noch so lang. Sie sind auch nicht mit dicken Schalen bewehrt wie ihre Ahnen – Ammoniten –, die gaben sie auf und tauschten sie gegen Geschwindigkeit ein, früh, Jakob Vinther (Bristol) hat es aus den Genen herausgerechnet. (Proc. Roy. Soc. B., 28. 2.)
Sie können sich nur davonmachen, mit ihrem einzigartigen Düsenantrieb – sie spritzen mit hohem Druck Wasser aus sich heraus –, und sie können nur auf der Hut sein. Dafür haben sie oft riesige Augen, und einer, Histiotheutis heteropsis, heißt gar der Schielende, er hat ein normales und ein monströses Auge. Das hält er nach oben, immer: Er lebt in fast lichtlosen Tiefen von bis zu 1000 Metern, die Gefahr droht von oben. Was unten ist und potenzielle Beute, jagt oft selbst mit Bioluminiszenz, für die reicht das kleine Auge. Söhnke Johnson (Duke) hat es erhoben, an Videomaterial von ferngesteuerten Kameras. (Phil. Trans. B, 12. 2.) Meister der Tarnung. Besser als beim Sehen sind sie noch beim Nicht-gesehen-Werden, Kraken sind Meister der Tarnung, können blitzschnell Farbe und Form wechseln, und wenn sie doch entdeckt werden, hüllen sie sich in Tinte. All das schützt vor einem Jäger nicht, dem Hai, er detektiert schwache elektrische Felder, die sich aufbauen, wenn ein Tintenfisch atmet. Das stellt er ein, wenn er einen Hai bemerkt, Johnson hat es gezeigt, diesmal experimentell (Proc. Roy. Soc. B 273, S. 2141). Umgekehrt jagen Kraken mit allen Finessen, nicht nur Fische, auch andere Kopffüßler, auch die der eigenen Art, bei manchen fallen Weibchen über begattungsbereite Männchen her. Andere verzehren paarweise ihre Mahlzeiten in größter Eintracht (PLoS One e0134152), und bei der Mutterliebe lassen sich alle nicht überbieten: Sie hüten die Brut bzw. die Eier und hungern dabei, bis sie tot umfallen: Ein Weibchen hielt in 1400 Metern Tiefe 4,5 Jahre durch, eine periodisch spähende Robotorkamera dokumentierte es (PLoS One e103437).
Ob sie die Eier auch zählen? Bei Beute tun sie es, Chuan-Chin Chiao (Hsinchu, Taiwan) hat es gezeigt, indem er Kraken in zwei transparenten Boxen unterschiedlich viele Shrimps präsentierte: Gab es rechts fünf und links einen, wandten sie sich nach rechts, das taten sie aber auch, wenn das Verhältnis vier zu drei war (Proc. Roy. Soc. B 20161379). Dergleichen entging just dem scharfen Beobachter Aristoteles, er beschrieb in seiner „Geschichte der Tiere“den Kraken als „dumme Kreatur, er nähert sich der Hand eines Menschen, wenn er sie ins Wasser steckt“. Dabei ist er nur neugierig, und klug wie kaum ein Zweiter: In seinem Genom stecken gegenüber dem von anderen Wirbellosen vor allem zwei große Gruppen, die eine ist für die Haut zuständig, die andere für das Gehirn – respektive die Gehirne:
Selbstlos hüten sie ihre Brut. Ob sie sie auch zählen? Bei der Beute können sie es. »Näher werden wir einem intelligenten Alien vermutlich nie kommen.«
Kraken haben nicht nur ein zentrales im Kopf, sondern acht weitere: Jeder Arm ist so üppig mit Neuronen ausgestattet, dass er selbstständig zupackt, wenn er Beute ertastet. Er löst auch das dabei entstehende Problem: Die Arme sind frei beweglich, in alle Richtungen, aber sie müssen bei Bedarf abgewinkelt werden. Bei uns sorgen die Gelenke dafür, Kraken lassen stattdessen von beiden Seiten her Muskelkontraktionen aufeinander zulaufen.
Zupacken können sie auch, wenn sie etwas sehen, dann steuert das zentrale Gehirn. Wie das geht, ist so unklar wie unbegreiflich, es braucht Rechenkapazitäten ohne Ende. Und sie packen nicht immer zu: Wenn sie etwas sehen, erkennen sie auch Gesichter ihnen vertrauter Menschen – Tierpfleger, Forscher –, manche begrüßen sie, andere spritzen sie an. All das versetzt einen Erben des Aristoteles in Euphorie: „Wenn wir Kopffüßlern als fühlenden Wesen begegnen können, dann deshalb, weil die Evolution den Geist zwei Mal gebaut hat“, schwärmt Harvard-Philosoph Peter Godfrey-Smith in seinem Buch „Other Minds“: „Näher werden wir einem intelligenten Alien vermutlich nie kommen.“