»Unsere verrückte Welt macht Bachs Klarheit noch anziehender«
Dirigent John Eliot Gardiner über die musikalische Liebe seines Lebens: den tanzenden Johann Sebastian und seine menschlichen Schwächen, Musik als Halluzinogen – und die Stücke, die er am liebsten an seinem Sterbebett hören würde.
Das Bild vom Thomaskantor hing auf dem Treppenabsatz im ersten Stock der alten Mühle. „Jeden Abend“, erzählt John Eliot Gardiner, „versuchte ich auf dem Weg ins Bett, seinem Furcht einflößenden Blick auszuweichen. Er war mir unsympathisch.“Welch merkwürdige Fügung: Auf dem Bauernhof in der englischen Grafschaft Dorset, auf dem Gardiner aufwuchs, befand sich tatsächlich das berühmte Bach-Porträt von Haußmann aus dem Jahr 1748, das sich heute im Leipziger Bach-Museum befindet. Es gehörte Walter Jenke, einem deutschen Juden, der 1936 vor den Nazis nach England geflüchtet war, in der Gegend Arbeit gefunden und eine Engländerin geheiratet hatte. Das Bild hatte er von seinem Großvater, der es, nichts von seinem Wert ahnend, in einem Raritätengeschäft erstanden hatte.
Gardiners Vater war ein Pionier der ökologischen Landwirtschaft. Heute wirtschaftet John Eliot Gardiner selbst als Biobauer auf dem Hof, wenn er nicht dirigierend durch die Welt reist – oder schreibt. Den Großteil seines wundervollen Buchs „Music in the Castle of Heaven“über die musikalische Liebe seines Lebens, Johann Sebastian Bach, hat er dort geschrieben. Nun gibt es das Buch endlich auf Deutsch.
„Ich habe jetzt verstanden, warum Bach auf dem Haußmann-Porträt so verzwickt dreinschaut“, erzählt Gardi-
1936
reiste dieses berühmte Bild in einem Rucksack nach England und hing dann jahrelang in Gardiners Elternhaus.
Der alte Bach
ist darauf zu sehen, gemalt 1748 von Elias Gottlob Haußmann, dem offiziellen Maler des Leipziger Stadtrats. Heute hängt es im Leipziger BachMuseum.
Streng
und unsympathisch fand der kleine John Eliot Bach auf dem Bild. Heute führt er dessen Blick auf Bachs Kurzsichtigkeit zurück. ner im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Das hat mit seiner Kurzsichtigkeit zu tun. Sieht man nur die untere Hälfte des Gesichts, wirkt er viel sympathischer. Als Kind fand ich ihn aber streng und oberlehrerhaft. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie dieser Pädagog’ so freundliche und tänzerische Musik komponieren konnte!“
Zu den großen Stärken dieses Dirigenten gehört es, Bach tanzen zu lassen. „Eine der ersten Begegnungen mit Bach hatte ich, als ich die Geigenkonzerte in a-Moll und in E-Dur spielen musste“, erzählt er, „darin gibt es so viel Tänzerisches. Die wenigen Zeugnisse, die wir über den Menschen Bach haben, sagen uns, dass sein Körper von Rhythmus erfüllt war, den hat er seinen Musikern auch intensiv vermittelt.“ Wie ein Astronaut auf dem Mond. Dieses Erlebnis von Bachs Musik will Gardiner ausnahmsweise nicht mit Tönen, sondern Worten vermitteln – zu denen er eine innige Beziehung hat, nicht zufällig hat er sich vor allem der Chormusik gewidmet. Aber beschreiben, wie es sich anfühlt, mittendrin zu sein in Bachs Musik, ist für ihn trotzdem eine Herausforderung: „als hätten die Astronauten den Mond beschreiben sollen“, oder „als erwachte man nach dem Genuss eines Halluzinogens aus einer Traumwelt und sollte anderen diese Sphären verständlich machen“.
So wichtig die Musik in diesem Buch auch ist: Es ist ein Buch über den Menschen Bach. Die Quellen verraten wenig über ihn, machen nur einzelne Charakterzüge deutlich – etwa, dass Bach schroff und aufbrausend sein konnte, oft im Clinch mit jemandem lag und stets Schwierigkeiten mit Autoritä- Gardiner verraten die Chorwerke am meisten über Bachs Charakter: Hier ist er mit den English Baroque Solo ten hatte. Meist aber kann man über sein Innenleben nur spekulieren – über Seelenschmerzen des frühen Waisenkindes und einsamen Teenagers, oder darüber, wie der Verlust von zehn seiner 20 Kinder (noch viel mehr als damals üblich) auf ihn gewirkt hat.
Aber – da ist eben noch die Musik. Peinlich genau unterscheiden manche Wissenschaftler zwischen Werk und Person, Gardiner nicht, wozu auch? Verzweiflung, Jauchzen, Zorn, Angst, Mitgefühl, Lebenslust – die Emotionen, die Bach so tröstlich in seine überirdisch wirkende Ordnung bettet, sind wuchtig, man kann als Hörer gar nicht anders, als dem Menschen Bach darin zu begegnen. Und so verfährt Gardiner auch selbstbewusst subjektiv. „Natürlich war es frustrierend, dass es so wenige Quellen gibt“, sagt er, „so wenige private Briefe, so wenig zu den Reaktionen seiner Zeitgenossen. Aber man kann Bachs Charakter gerade in den Kantaten stark erahnen – die Art, wie er zornig, vergnügt, wie er humorvoll oder ernst war.“
Bach war „kein Langeweiler“, ist Gardiner sicher. Und: „Er war menschlich kein Vorbild“– auch wenn er „nicht so schlimm“gewesen sei wie Mozart und Wagner. „Es ist wirklich erstaunlich, wie aus einem unvollkommenen Menschen eine so vollkommene Musik kommen kann.“Seine Schwächen 3
Auf seinem Biobauernhof hat Gardiner den Großteil seines Bach-Buchs geschrieben.