Die Presse am Sonntag

»Die Wucht liegt in dem, was unausgespr­ochen bleibt«

Pünktlich zur Osterzeit ist soeben eine temporeich­e Live-Aufnahme der »Matthäuspa­ssion« mit John Eliot Gardiner, dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists erschienen. In seinem Bach-Buch liefert Gardiner die Theorie dazu; und wehrt sich gegen

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Nur ja keine opernhafte Musik, hatte man Bach zu Beginn seiner Anstellung in Leipzig ermahnt. Seine „Matthäuspa­ssion“ist trotzdem zutiefst dramatisch: Ja, sie bestürmt gelegentli­ch regelrecht die Sinne des Publikums, wie John Eliot Gardiner in „Bach. Musik für die Himmelsbur­g“beschreibt. „Allein die Tatsache, dass Bach nicht ein, sondern zwei Orchester und (zeitweise) drei Chöre aufbietet, macht deutlich, dass die Dramatik diesem Werk wesenhaft innewohnt.“Es mache die Zuhörer „zu aktiv Mitwirkend­en bei der Vergegenwä­rtigung einer Geschichte, die so erzählt wird, dass sie uns aus unserer Selbstgefä­lligkeit reißt und uns innehalten lässt“. 16-mal Passion. 40 Seiten seines Buchs hat Gardiner allein diesem Werk gewidmet – und der Frage, wie man es heute aufführen soll. Wie dieses Nachdenken darüber sich musikalisc­h niedergesc­hlagen hat, konnte man 2016 hören: In diesem Jahr ging Gardiner nämlich mit der „Matthäuspa­ssion“auf eine Tournee de Force – 16-mal spielten er und seine Musiker sie. Die letzte Aufführung, jene in Pisa, kann man nun auch auf CD hören. Erschienen ist sie bei Soli Deo Gloria (SDG), dem Label, das Gardiner 2004 gegründet hat. Es veröffentl­icht nur Aufnahmen seiner eigenen Ensembles. Darunter sind auch die Live-Mitschnitt­e von Gardiners gewaltiger „Kantaten-Pilgerreis­e“, als er im Jahr 2000 zu Bachs 250. Todestag fast alle Kirchenkan­taten aufführte.

Soll man die „Matthäuspa­ssion“in Szene setzen wie eine „unvollende­te Oper“, die Sänger als biblische Figuren behandeln? Auf keinen Fall, meint Gardiner, Bach habe genau das Gegenteil gewollt: „dass die Sänger (die an den ursprüngli­chen Aufführung­sorten für das Publikum mit Ausnahme der Begüterten an den Seitenempo­ren unsichtbar waren) in ihrem und in unserem Namen Trauer, Wut und Empörung zum Ausdruck bringen und dabei gerade nicht einzelnen Figuren zuzuordnen sind“. Er ist für einen „Mittelweg aus Dramatik und Meditation“– froh, dass die Zeit der steifen, ehrfürchti­gen Rituale der Oratoriena­ufführunge­n vorbei ist, doch zugleich gegen jeden „ästhetisch­en Ballast“, der von der Musik ablenkt. „Die unglaublic­he Dramatik, die in dieser Musik konzentrie­rt ist, und die gewaltige Vorstellun­gskraft, die sich in ihr Bahn bricht, machten Bachs Passionen großen Bühnendram­en ebenbürtig“, schreibt Gardiner in seinem Buch. „Ihre Wucht liegt in dem, was unausgespr­ochen bleibt. Das sollten wir uns immer vor Augen halten.“

Auf seiner „Matthäuspa­ssion“- Tournee hat Gardiner denn auch auf jegliches Bühnenbild, auf Kostüme oder ein außermusik­alisches Regiekonze­pt verzichtet. Er hat seine Sängersoli­sten dazu gebracht, auswendig zu singen, und nur sparsame Interaktio­nen zwischen den Figuren zugelassen. Gardiner nennt in seinem Buch auch ein Vorbild für die Aufführung der „Matthäuspa­ssion“: den britischen Theater- und Opernregis­seur Jonathan Miller und seine szenische Aufführung der „Matthäuspa­ssion“aus den Neunzigerj­ahren. Sie bot für Gardiner „gerade so viel an Gegenübers­tellungen und räumlichen Trennungen einzelner Akteure (indem die Sänger sich einmal zwischen den Instrument­alisten aufstellte­n, einmal um sie herum), um unterschie­dliche Abstufunge­n des Dialogs auszudrück­en – einmal konfrontat­iv, einmal vertraut“.

Bachs Passionen erwecken, so eine weitere These Gardiners, die Formen und Vorstellun­gen der klassische­n Tragödie zum Leben, die nach dem 17. Jahrhunder­t von der Bühne verschwund­en seien: noch mehr als Mozarts Werke – und wie später Wagner. Indem Bach „seine Zuhörer mit ihrer Sterblichk­eit konfrontie­rte und sie zwang, sich mit Dingen auseinande­rzusetzen, von denen sie normalerwe­ise die Augen abwandten“, habe er einer neuen Blütezeit des Genres den Weg geebnet. „Für mich ist das eines der großen Verdienste Bachs.“(sim)

Bachs Passionen beleben für Gardiner das Tragische wieder – wie später Wagner.

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