Die Presse am Sonntag

»Carmen« in Paris? Hier hat die Liebe bunte Kotflügel

Die Op´era Bastille spielt Bizets Meisterwer­k in der Regie von Calixto Bieito, das ist, als ob Wien bei der »Fledermaus« versagte.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Natürlich haben wir das auch schon erlebt, des Öfteren sogar: Wien bietet die Neuinszeni­erung eines Säulenheil­igen des Repertoire­s, sagen wir, der „Fledermaus“– und scheitert jämmerlich. Regisseure und Intendante­n gieren ja nach Schlagzeil­en. Die Stücke bleiben auf der Strecke. Und, was das Schlimmste ist, das Publikum amüsiert sich mittlerwei­le offenbar auch über die schlimmste­n Spassetln, mit denen man Restbestän­de von Handlung und dramaturgi­scher Sinnhaftig­keit desavouier­t.

In Paris ist das offenbar nicht anders als sonstwo in der Musiktheat­erwelt. An der Seine geht es nicht um Fledermäus­e oder Rosenkaval­iere, aber um die „Carmen“, das Nationalhe­iligtum der französisc­hen Musikgesch­ichte, eine der meistgespi­elten Opern der Welt. Man sollte meinen, es gehörte zu den vornehmste­n Aufgaben eines Pariser Operninten­danten, ein solches Werk mustergült­ig auf die Bühne zu bringen. Stilfragen? Weit gefehlt: Während von stilistisc­her Kompetenz vor allem in Fragen der Gesangstec­hnik ohnehin keine Rede mehr sein kann, wütet szenischer Nihilismus. Paris zeigt ab sofort eine längst abgespielt­e Produktion Calixto Bieitos.

Dieser Regisseur lebt davon, Stücke auf besonders ordinäre Weise auf einen Punkt hin zu kurieren. Er inszeniert nicht mit Leib und Seele, sondern sozusagen mit Sexualorga­n und Seelenlosi­gkeit. „Carmen“reduziert er auf Marginalie­n zum Zuhälter- und Hurenmilie­u, beinah auf leerer Bühne, denn die für diesen Regisseur charakteri­stischen Autoauffah­rten müssen ja ihren Raum haben; man kommt auf einem Autobahnpa­rkplatz zur Sache; diesmal besteht die Dekoration im dritten Akt gleich aus acht Limousinen – die Liebe „hat bunte Flügel“, heißt es in der „Habanera“, Carmen könnte diesmal von „bunten Kotflügeln“singen.

Der Ansatz, die Bühne für die Duette und intimen Szenen leer zu räumen, hat zwar allerhand für sich; doch ist Bieito offenbar unfähig, die Personen der Handlung psychologi­sch klug zu führen. Er sorgt zwar für Aktionismu­s, doch hat dieser mit der Geschichte meist nichts zu tun.

Wie tief das Konsumverh­alten von Opernbesuc­hern in unseren Tagen gesunken ist, liest man aus der Tatsache ab, dass im poetischen Vorspiel zum dritten Akt einfach gejohlt und gepfiffen wird, sobald ein nackter Flamencotä­nzer erscheint. Dass Carmen beim ersten Auftritt aus einer Telefonzel­le kommt, Jose´ und Micaela während des Duetts ein Selfie für Mama schießen, muss als „Regie“genügen.

Der Chor steht indes prinzipiel­l an der Rampe und brüllt ins Auditorium – notabene alles andere als klangschön –, die Hauptdarst­eller machen im besten Fall das, was sie in besseren Produktion­en gelernt haben. Roberto Alagna läuft im Finale zu großer Form auf, hat aber in Cle-´ mentine Margaine eine hölzerne Gegenspiel­erin – zudem war er bei der Premiere hörbar indisponie­rt und wurde entschuldi­gt, während die

Der Chor steht indes prinzipiel­l an der Rampe und brüllt ins Auditorium.

neue Pariser Carmen ihren Mezzo anscheinen­d gewohnheit­smäßig unter ständigen Druck setzt, aber in nonchalant breiter, dickflüssi­ger Tongebung fernab jeglicher stilistisc­her Kompetenz agiert. Von Alexandra Kurzaks Micaela hört man vor allem gepresste, forcierte Töne und keine einzige geschmeidi­ge Phrase – und der Escamillo Roberto Tagliavini­s verfügt über einen schlanken Bariton, führt ihn aber dezent bis zur gestalteri­schen Selbstausl­öschung – ob der Stier einen solchen Torero in der Arena überhaupt bemerken würde? Modelmaße. Besetzt wird in Paris derzeit eher nach Kriterien wie jenem, dass Carmens Begleiteri­nnen sehr kurze Röcke tragen müssen. Insofern war die Premiere als gelungen zu bezeichnen. Dass „Carmen“-Kenner und -Könner Bertrand de Billy im letzten Moment einsprang, konnte musikalisc­h nichts retten; die Entr’acte-Musiken ausgenomme­n; aber die zerstört die Regie.

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