»Carmen« in Paris? Hier hat die Liebe bunte Kotflügel
Die Op´era Bastille spielt Bizets Meisterwerk in der Regie von Calixto Bieito, das ist, als ob Wien bei der »Fledermaus« versagte.
Natürlich haben wir das auch schon erlebt, des Öfteren sogar: Wien bietet die Neuinszenierung eines Säulenheiligen des Repertoires, sagen wir, der „Fledermaus“– und scheitert jämmerlich. Regisseure und Intendanten gieren ja nach Schlagzeilen. Die Stücke bleiben auf der Strecke. Und, was das Schlimmste ist, das Publikum amüsiert sich mittlerweile offenbar auch über die schlimmsten Spassetln, mit denen man Restbestände von Handlung und dramaturgischer Sinnhaftigkeit desavouiert.
In Paris ist das offenbar nicht anders als sonstwo in der Musiktheaterwelt. An der Seine geht es nicht um Fledermäuse oder Rosenkavaliere, aber um die „Carmen“, das Nationalheiligtum der französischen Musikgeschichte, eine der meistgespielten Opern der Welt. Man sollte meinen, es gehörte zu den vornehmsten Aufgaben eines Pariser Opernintendanten, ein solches Werk mustergültig auf die Bühne zu bringen. Stilfragen? Weit gefehlt: Während von stilistischer Kompetenz vor allem in Fragen der Gesangstechnik ohnehin keine Rede mehr sein kann, wütet szenischer Nihilismus. Paris zeigt ab sofort eine längst abgespielte Produktion Calixto Bieitos.
Dieser Regisseur lebt davon, Stücke auf besonders ordinäre Weise auf einen Punkt hin zu kurieren. Er inszeniert nicht mit Leib und Seele, sondern sozusagen mit Sexualorgan und Seelenlosigkeit. „Carmen“reduziert er auf Marginalien zum Zuhälter- und Hurenmilieu, beinah auf leerer Bühne, denn die für diesen Regisseur charakteristischen Autoauffahrten müssen ja ihren Raum haben; man kommt auf einem Autobahnparkplatz zur Sache; diesmal besteht die Dekoration im dritten Akt gleich aus acht Limousinen – die Liebe „hat bunte Flügel“, heißt es in der „Habanera“, Carmen könnte diesmal von „bunten Kotflügeln“singen.
Der Ansatz, die Bühne für die Duette und intimen Szenen leer zu räumen, hat zwar allerhand für sich; doch ist Bieito offenbar unfähig, die Personen der Handlung psychologisch klug zu führen. Er sorgt zwar für Aktionismus, doch hat dieser mit der Geschichte meist nichts zu tun.
Wie tief das Konsumverhalten von Opernbesuchern in unseren Tagen gesunken ist, liest man aus der Tatsache ab, dass im poetischen Vorspiel zum dritten Akt einfach gejohlt und gepfiffen wird, sobald ein nackter Flamencotänzer erscheint. Dass Carmen beim ersten Auftritt aus einer Telefonzelle kommt, Jose´ und Micaela während des Duetts ein Selfie für Mama schießen, muss als „Regie“genügen.
Der Chor steht indes prinzipiell an der Rampe und brüllt ins Auditorium – notabene alles andere als klangschön –, die Hauptdarsteller machen im besten Fall das, was sie in besseren Produktionen gelernt haben. Roberto Alagna läuft im Finale zu großer Form auf, hat aber in Cle-´ mentine Margaine eine hölzerne Gegenspielerin – zudem war er bei der Premiere hörbar indisponiert und wurde entschuldigt, während die
Der Chor steht indes prinzipiell an der Rampe und brüllt ins Auditorium.
neue Pariser Carmen ihren Mezzo anscheinend gewohnheitsmäßig unter ständigen Druck setzt, aber in nonchalant breiter, dickflüssiger Tongebung fernab jeglicher stilistischer Kompetenz agiert. Von Alexandra Kurzaks Micaela hört man vor allem gepresste, forcierte Töne und keine einzige geschmeidige Phrase – und der Escamillo Roberto Tagliavinis verfügt über einen schlanken Bariton, führt ihn aber dezent bis zur gestalterischen Selbstauslöschung – ob der Stier einen solchen Torero in der Arena überhaupt bemerken würde? Modelmaße. Besetzt wird in Paris derzeit eher nach Kriterien wie jenem, dass Carmens Begleiterinnen sehr kurze Röcke tragen müssen. Insofern war die Premiere als gelungen zu bezeichnen. Dass „Carmen“-Kenner und -Könner Bertrand de Billy im letzten Moment einsprang, konnte musikalisch nichts retten; die Entr’acte-Musiken ausgenommen; aber die zerstört die Regie.