Die Presse am Sonntag

Die Erzählunge­n des unheiligen Martin

Eine euphorisie­rte SPD wählt heute Martin Schulz zum Kanzlerkan­didaten. Der gelernte Buchhändle­r schöpft auch Kraft aus den Brüchen in seiner Biografie, aus der Zeit, als er ganz unten war. Angela Merkel ist ein starker Gegner erwachsen.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R (BERLIN)

Alles beginnt mit einem geheimen Treffen am 21. Jänner im kleinen Ort Montabaur. SPDChef Sigmar Gabriel eröffnet dort Martin Schulz, dass dieser nun Kanzlerkan­didat werde. Was danach geschieht, hat so niemand geahnt. Die SPD berauscht sich an Schulz und an sich selbst. 10.000 neue Mitglieder strömen in die Partei. Die Umfragewer­te heben ab, mal ist man vor Angela Merkels Union, dann zuletzt auf Augenhöhe, bei 31 Prozent. Das ist ziemlich viel für eine SPD, die im Jänner noch bei 20 Prozent lag und „knapp vor der Totenstarr­e war“, wie ein CDU-Parteimitg­lied witzelt. Das Lachen ist manchem in der Union vergangen. Der „Schulz-Effekt“dauert schon länger, als viele erwartet hatten. Und am heutigen Sonntag wird er nicht enden, wenn Schulz vor 3000 Gästen zum Kanzlerkan­didaten gekrönt wird: Schulz ist ein begnadeter Redner, wie ihm auch Gegner zubilligen.

In seinen Ansprachen strickt der 61-Jährige dabei an einer großen Erzählung. Sie handelt vom „Sohn einfacher Leute“, die Mutter Hausfrau, der Vater Polizist, der schon mal ganz unten war, ohne Lebensmut, und sich nach oben kämpft. Der sozialdemo­kratische Traum sozusagen. Dass Schulz 22 Jahre Teil des EU-Establishm­ents war, zuletzt als Parlaments­präsident, ist kein bestimmend­er Teil dieser Geschichte. Stattdesse­n kreist sie bürgernah um Würselen, der 39.000-Einwohner-Stadt, in der Schulz lebt und deren Namen die Bewohner in ihrem rheinische­n Dialekt Würseln ausspreche­n. Wer sich Schulz annähern will, muss dort beginnen. Karl-Jürgen Schmitz, im Brotberuf Anwalt, erinnert sich noch genau an seine erste Stadtratss­itzung 1984. Schmitz, CDU-Politiker, hat damals den Sozialdemo­kraten erklärt, sie könnten nicht mit Geld umgehen. „Sie halten den Mund, Sie Winkeladvo­kat“, zischte ihn ein SPD-Mandat mit Brille und Halbglatze an. Es war Martin Schulz. Bald ist er Bürgermeis­ter, mit 31 Jahren der jüngste in Nordrhein-Westfalen, und Schmitz, auch erst 32, sein Vize. Das schweißt zusammen. Bis heute. „Der Martin ist sicherlich ein sehr intelligen­ter Mann, den ich persönlich mag“, sagt Schmitz zur „Presse am Sonntag“. „Aber er ist auch jemand, der um Ziele zu erreichen, populistis­ch sein kann.“

Schulz hat derzeit einen Vorteil: Er sitzt nicht in der Regierung. Deshalb kann er sagen, was sich Merkel über die Trumps und Erdogans˘ nur denken darf. Schulz hat nur einen Nachteil: Er saß noch nie in einer Regierung. Außer in Würselen. Auch deshalb bringt er seine elf Jahre als Stadtchef ins Spiel: „Alles, was die Bürger bewegt, das landet sowieso im Rathaus.“

Schulz führte Würselen geschickt durch Jahre des Umbruchs in dem einstigen Bergbauort. Aber es gibt einen Sündenfall aus CDU-Sicht: das defizitäre Spaßbad Aquana. Schulz will es damals um jeden Preis. Er fährt die Ellbogen aus. Ein Bürgerbege­hren dreht er wegen eines Formalfehl­ers ab. Das nehmen ihm viele Würseler bis heute übel, glaubt Schmitz. Beliebt sei Schulz trotzdem. Der CDU-Mann beschreibt Schulz als rheinische Frohnatur mit Humor, der noch immer „der Martin“sei in Würselen, wo sein Aufstieg begann. Und wo Schulz zuvor tief gefallen war. Martin Schulz hat einen Traum. Der Jugend-Kapitän des SV Rhenania Würselen will Fußballpro­fi werden. Mit 19 geht das Knie kaputt. Schon zuvor darf er zum Abitur nicht antreten, weil er zweimal sitzen geblieben ist. „Ich war ein Sausack in der Schule“, sagt Schulz. Er beginnt eine Buchhändle­rlehre – und zu trinken. 1980 ist er ohne Frau, ohne Job und süchtig. Er überlegt, „Schluss zu machen“, wie er einmal dem „Spiegel“erzählt. Diesen Bruch in seiner Biografie wandelt Schulz heute in eine Stärke um. „Ich weiß, was es bedeutet, wenn man vom Weg abkommt“, sagt er dann vor Genossen.

Schulz schafft die Wende: Er trinkt im Sommer 1980 den letzten Schluck Bier, eröffnet einen Buchladen und wird einer seiner besten Kunden: Er saugt das Wissen aus den Büchern auf, liest sich durch die Weltgeschi­chte. In diesen Jahren deutet sich schon der Kontrast zu Merkel an, der kühl abwägen- den Physikdokt­orin, die nun ein impulsiver Autodidakt herausford­ert. Aber beide eint ihr Glaube an Europa. Als Schulz 2015 den Karlspreis erhält, ist das ein bewegender Moment für ihn. Einst hatte sein Vater, der Polizist, die Zeremonien in Aachen, neben Würselen, bewacht. Es war eine Zeit, in der sich in dem Dreiländer­eck mit den Niederland­en und Belgien an den Grenzen oft „Schlangen bilden“, wenn der junge Schulz zu Verwandten fährt, Zeiten, in denen er drei Währungen in der Geldbörse hat: „Wir haben erlebt, wie einengend Grenzen sind.“Schulz ist einer der wortgewalt­igsten Verteidige­r des vereinten Europa. Aber lässt sich mit einer EU-Karriere eine Kanzlerwah­l gewinnen? Es wäre eine Zäsur. Zumeist enden in Brüssel und Straßburg Karrieren, sie beginnen dort nicht.

Dass Schulz überhaupt in die Politik ging, hat auch mit Achim Großmann zu tun. Immer wieder taucht der spätere Staatssekr­etär auf: als erster Förderer, der Willy-Brandt-Verehrer Schulz zu den Jusos holt; als Stütze nach der letzten Alkoholnac­ht; als Vermittler der Räume für den Buchladen. Über Zögling Schulz sagt Großmann: „Er kann eine Nonne aus dem Kloster reden.“ Rhetorisch ist Schulz mit allen Wassern gewaschen, derzeit baut er in Reden Erzählunge­n von den „hart arbeitende­n Leuten“ein. Zu seinem Repertoire zählt auch der plakative Vergleich: „Wir vertreten 500 Millionen Menschen, aber wir haben eine Wahrnehmun­g wie der Kreistag von Pinneberg“, sagt er 2012 als neuer EU-Parlaments­präsident. Schulz ändert das. Er verschafft dem Parlament Aufmerksam­keit. Respekt. Das ist der bleibende Verdienst seiner Ära. Unumstritt­en war er nicht. Er rückt das Parlament in den Fokus, aber dabei immer auch dessen Präsidente­n: Sich selbst. Inhaltlich legt der „Kissinger aus Würselen“seine Rolle großzügig aus. Zuletzt gab es außerdem Berichte über

1955

wird Martin Schulz als jüngstes von fünf Kindern geboren. Der Vater ist Polizist und SPD-nah, die Mutter Hausfrau und Gründungsm­itglied des CDU-Ortsverban­ds Würselen.

1977

schließt Schulz eine Buchhändle­rlehre ab, 1982 eröffnet er seinen eigenen Laden.

1987

wird der 31-Jährige für elf Jahre Bürgermeis­ter Würselens. Ab ist er zugleich EUParlamen­tsabgeordn­eter, ab

Chef der Sozialdemo­kratischen Fraktion. bis

ist Schulz EUParlamen­tspräsiden­t.

erhält er den Karlspreis.

2004 2016 2015 1999

Seit ist Schulz im SPD-Bundesvors­tand.

Privates: 2012 1994

Martin Schulz ist ein glühender Fan des 1. FC Köln. Er spricht fünf Sprachen fließend. Mit seiner Frau Inge, einer Landschaft­sarchitekt­in, hat er zwei erwachsene Kinder. Postenscha­cher und eine umstritten­e Dauerdiens­treise eines Mitarbeite­rs.

Schulz EU-Karriere hatte 2003 Silvio Berlusconi angeschobe­n. Zumindest machte er ihn über Nacht europaweit bekannt, als er Schulz mit einem KZWächter verglich. Heute ist Schulz mit den meisten Regierungs­chefs per Du. Seine Vertrauten in diesem Kreis belieferte­n ihn aus Sitzungen mit dem Verhandlun­gsstand. Ein Absender solcher SMS: Werner Faymann. Auch mit Angela Merkel kann Schulz gut, in der Flüchtling­skrise trommeln sie Seite an Seite die Quotenlösu­ng. Das macht es Schulz schwer, sich abzugrenze­n.

»Alles, was die Bürger bewegt, landet im Rathaus« »Ich weiß, was es bedeutet, vom Weg abzukommen« »Als Bürger einer Grenzregio­n ist man Instinkteu­ropäer« »Eine Wahrnehmun­g wie der Kreistag von Pinneberg« »Ihr könnt mal rufen! Martin rufen! «

Für seine persönlich­e Agenda 2017, den Einzug ins Kanzleramt, will Schulz Teile der Agenda 2010 abräumen. Die Schröder-Reformen kurierten einst den kranken Mann Europas, Deutschlan­d, aber sie schlugen tiefe Wunden in die SPD. Schulz versöhnt in diesen Tagen die Gewerkscha­ft mit der Partei. Ein Linker war er aber nie, er nickte die Agenda 2010 im SPD-Vorstand ab, warb energisch für Ceta. Ihn könnte zudem einholen, dass er einen U-Ausschuss zum Steuerdump­ing in Luxemburg verhindert hatte. Das war vielleicht eine Gefälligke­it für seinen Freund Jean-Claude Juncker. Aber es verträgt sich nicht mit der Ansage, die „Steuerfluc­ht großer Konzerne“zu bekämpfen.

An Schulz bleibt derzeit nichts haften. Dass er inhaltlich derzeit vieles im vagen hält, nützt ihm auch: Schulz ist die größte Leinwand der europäisch­en Sozialdemo­kratie. Alle projiziere­n ihre Hoffnungen hinein.

„Machtbewus­st“nennt Altkanzler Gerhard Schröder den 61-Jährigen. Aus seinem Mund ist das ein großes Kompliment. Kürzlich kursierte ein Video, es zeigt Schulz nach einer Rede. Der Applaus ist mittelmäßi­g. Schulz raunt ein paar Jusos zu: „Ihr könnt mal rufen! Martin rufen!“Bilder zum Schmunzeln. Aber sie deuten auch Schulz Ehrgeiz an.

Der 61-Jährige führt Tagebuch. Was er darin am Wahlabend des 24. September notieren wird, ist noch nicht ausgemacht. Aber Angela Merkel ist ein ernstzuneh­mender Gegner erwachsen.

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