Die Schmerzen des Gesundheitssystems
Der städtische Spitalskonzern Wiener KAV gerät immer stärker ins Trudeln. Nun kommen Probleme an die Oberfläche, die lange ignoriert wurden. Eine analytische Betrachtung der »Presse am Sonntag«.
Derzeit zieht Sandra Frauenberger allein durch die Häuser des Wiener Gesundheitssystems. Keine große Entourage, kein pompös inszenierter Auftritt einer Spitzenpolitikerin, wie es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Wiener Spitalwesens gewohnt sind.
„Besonders auffällig ist“, erzählen Mitarbeiter der Häuser: Selbst die Führungsspitze des trudelnden Krankenanstaltenverbundes (KAV), also der umstrittene Generaldirektor Udo Janßen und seine Stellvertreter, fehlen bei Frauenbergers Tour durch das Gesundheitssystem. „Das ist das erste Mal, dass bei Besuchen von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern die KAV-Führungsriege nicht dabei ist – obwohl die KAV-Führung direkt für die Häuser verantwortlich ist, welche die Stadträtin besucht“, erzählt eine Mitarbeiterin, die seit Jahrzehnten in einem KAV-Haus arbeitet, verwundert der „Presse am Sonntag“. Vertrauensverluste. Die Tour der neuen Gesundheits- und Sozialstadträtin durch alle Häuser des städtischen Gesundheitssystems ohne die Stützen des bisherigen Systems hat einen ernsten Hintergrund: Im KAV wurden an zahlreichen Stellen verbrannte Erde und demotivierte, verunsicherte Mitarbeiter hinterlassen – sei es durch einen verhaltensoriginellen Führungsstil der KAV-Spitze um den höchst umstrittenen Generaldirektor Udo Janßen, dessen Agieren in Rechnungshofberichten äußerst negativ gewürdigt wird. Oder durch die (laut Rechnungshof notwendige) Ausgliederung mit Budget- und Personalhoheit für den KAV – was Bürgermeister Michael Häupl angestoßen hat, wogegen die Gewerkschaft aber wütend auf die Barrikaden steigt.
Deshalb hatte Frauenberger öffentlich angekündigt: Sie wolle als Erstes durch die Häuser gehen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern reden, um „Vertrauen wiederherzustellen“. Genau das hatte Bürgermeister Michael Häupl als erste Aufgabe für die Nachfolgerin von Sonja Wehsely definiert – nachdem es ein offenes Geheimnis ist, dass die Kommunikation zwischen der Generaldirektion und den KAV-Häusern massiv gestört ist. Symptomatisch dafür ist auch der Umgang mit dem kritischen Arzt Gernot Rainer, dessen Vertrag (entgegen den Usancen) nicht mehr verlängert wurde. Ihm wurde „mangelnde Identifikation mit den Gesamtinteressen der Stadt Wien“vorgeworfen – weil er die offiziell nicht anerkannte Ärztegewerkschaft Asklepios gegründet hatte.
Im Bereich der (de facto auf Eis gelegten) KAV-Ausgliederung und beim Umgang mit dem KAV-Personal kommt Frauenberger nicht nur zugute, dass sie als umgänglich und sozial kompetent gilt – sondern auch, dass sie Gewerkschafterin ist. Und damit einen großen Vertrauensvorschuss von Be- diensteten und Personalvertretung besitzt. Nur: Um die Probleme und das Missmanagement beim Bau des Krankenhauses Nord unter Kontrolle zu bringen, werden gewerkschaftliche Verankerungen allerdings weniger gefragt sein als die Fähigkeiten einer Krisenmanagerin. Auswirkung auf Patienten. Parallel zu den internen Problemen zeigen sich die negativen Auswirkungen eines taumelnden Gesundheitssystems nun immer drastischer für die Patienten: Krebspatienten müssen in der Strahlentherapie kritische Wartezeiten hinnehmen, weil es dort zu wenig Kapazitäten gibt – wie ein Bericht des Wiener Stadtrechnungshofes enthüllte. Die „kritischen Wartezeiten“beziehen sich auf die Heilungschancen. Also die Überlebenschancen von Krebspatienten – weil nicht genug Linearbeschleuniger angeschafft wurden, obwohl der Engpass seit langen Jahren vorherzusehen war. Dazu kommt die Zwei-Klassen-Medizin, die in Wien immer deutlicher hervortritt.
Lange Wartezeiten auf eine MRTUntersuchung selbst bei Karzinomverdacht – weil die EU-Arbeitszeitrichtlinie der Spitalsärzte, auf die sich Wien zehn Jahre hätte vorbereiten können, seitens der Politik nicht umgesetzt wurde. Womit alle in den niedergelassenen Bereich ausweichen müssen, wo lebenswichtige Untersuchungen seitens der Krankenkassen allerdings gedeckelt sind. Wer bei Tumorverdacht nicht riskieren will, so lange zu warten, bis ein Karzinom inoperabel ist, muss für die Untersuchung auf den privaten Sektor ausweichen und bezahlen.
Und seit dem Abschied von Sonja Wehsely kommt immer mehr an die Oberfläche. Beispielsweise, dass vor Kurzem, an einem Sonntag, nur zwei Notärzte in Wien, einer Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern, im Einsatz
Neo-Stadträtin Frauenberger tourt durch die Spitäler, um Vertrauen wieder aufzubauen. Zwei Notärzte im Sonntagsdienst – für knapp zwei Millionen Einwohner.
sein konnten – wegen Personalmangel bei der Wiener Rettung. Den gibt es auch in anderen Teilen des Wiener Gesundheitssystems. Etwa bei den Hebammen. Oder auf den Stationen. Eine der Folgen: die berüchtigten Gangbetten.
Die Diagnose von Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer: „Das Gesundheitswesen in Wien ist schlecht“, weil gerade in der Großstadt alle Teilnehmer im Gesundheitsbereich eng zusammenarbeiten müssten – die Stadt Wien mit dem KAV, den niedergelassenen Ärzten und den Sozialversicherungen. Auf dem Land seien beispielsweise die Ambulanzen schon aufgrund der räumlichen Entfernung nicht überlaufen – weil für viele Patienten der Weg zum Hausarzt viel kürzer sei als zu einer Ambulanz, die es nicht in jedem Ort gebe. In Wien dagegen seien Ambulanzen sehr leicht und schnell erreichbar – weshalb viele Menschen gleich in die Ambulanz und nicht zum Facharzt gingen.
Ein weiterer Grund dafür: Die Wartezeiten auf Facharzttermine sind oft extrem lang, viele weichen daher auf Ambulanzen aus. Oder zu Wahlärzten, bei denen privat bezahlt werden muss.
Die nüchterne Diagnose, die Pichlbauer über den aktuellen Zustand das Wiener Gesundheitssystems stellt: „Man merkt die Spannung, wie das System auseinanderdriftet.“Nachsatz: „Natürlich haben diese Spannungen auch unter anderen KAV-Generaldirektoren existiert. Aber jetzt erst merkt man, wie Wilhelm Marhold (Udo Janßens Vorgänger, Anm.) diese auseinanderdriftenden Interessen zusammengehalten hat.“