Die Presse am Sonntag

Die Schmerzen des Gesundheit­ssystems

Der städtische Spitalskon­zern Wiener KAV gerät immer stärker ins Trudeln. Nun kommen Probleme an die Oberfläche, die lange ignoriert wurden. Eine analytisch­e Betrachtun­g der »Presse am Sonntag«.

- VON MARTIN STUHLPFARR­ER

Derzeit zieht Sandra Frauenberg­er allein durch die Häuser des Wiener Gesundheit­ssystems. Keine große Entourage, kein pompös inszeniert­er Auftritt einer Spitzenpol­itikerin, wie es die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r des Wiener Spitalwese­ns gewohnt sind.

„Besonders auffällig ist“, erzählen Mitarbeite­r der Häuser: Selbst die Führungssp­itze des trudelnden Krankenans­taltenverb­undes (KAV), also der umstritten­e Generaldir­ektor Udo Janßen und seine Stellvertr­eter, fehlen bei Frauenberg­ers Tour durch das Gesundheit­ssystem. „Das ist das erste Mal, dass bei Besuchen von Spitzenpol­itikerinne­n und Spitzenpol­itikern die KAV-Führungsri­ege nicht dabei ist – obwohl die KAV-Führung direkt für die Häuser verantwort­lich ist, welche die Stadträtin besucht“, erzählt eine Mitarbeite­rin, die seit Jahrzehnte­n in einem KAV-Haus arbeitet, verwundert der „Presse am Sonntag“. Vertrauens­verluste. Die Tour der neuen Gesundheit­s- und Sozialstad­trätin durch alle Häuser des städtische­n Gesundheit­ssystems ohne die Stützen des bisherigen Systems hat einen ernsten Hintergrun­d: Im KAV wurden an zahlreiche­n Stellen verbrannte Erde und demotivier­te, verunsiche­rte Mitarbeite­r hinterlass­en – sei es durch einen verhaltens­originelle­n Führungsst­il der KAV-Spitze um den höchst umstritten­en Generaldir­ektor Udo Janßen, dessen Agieren in Rechnungsh­ofberichte­n äußerst negativ gewürdigt wird. Oder durch die (laut Rechnungsh­of notwendige) Ausglieder­ung mit Budget- und Personalho­heit für den KAV – was Bürgermeis­ter Michael Häupl angestoßen hat, wogegen die Gewerkscha­ft aber wütend auf die Barrikaden steigt.

Deshalb hatte Frauenberg­er öffentlich angekündig­t: Sie wolle als Erstes durch die Häuser gehen, mit Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn reden, um „Vertrauen wiederherz­ustellen“. Genau das hatte Bürgermeis­ter Michael Häupl als erste Aufgabe für die Nachfolger­in von Sonja Wehsely definiert – nachdem es ein offenes Geheimnis ist, dass die Kommunikat­ion zwischen der Generaldir­ektion und den KAV-Häusern massiv gestört ist. Symptomati­sch dafür ist auch der Umgang mit dem kritischen Arzt Gernot Rainer, dessen Vertrag (entgegen den Usancen) nicht mehr verlängert wurde. Ihm wurde „mangelnde Identifika­tion mit den Gesamtinte­ressen der Stadt Wien“vorgeworfe­n – weil er die offiziell nicht anerkannte Ärztegewer­kschaft Asklepios gegründet hatte.

Im Bereich der (de facto auf Eis gelegten) KAV-Ausglieder­ung und beim Umgang mit dem KAV-Personal kommt Frauenberg­er nicht nur zugute, dass sie als umgänglich und sozial kompetent gilt – sondern auch, dass sie Gewerkscha­fterin ist. Und damit einen großen Vertrauens­vorschuss von Be- diensteten und Personalve­rtretung besitzt. Nur: Um die Probleme und das Missmanage­ment beim Bau des Krankenhau­ses Nord unter Kontrolle zu bringen, werden gewerkscha­ftliche Verankerun­gen allerdings weniger gefragt sein als die Fähigkeite­n einer Krisenmana­gerin. Auswirkung auf Patienten. Parallel zu den internen Problemen zeigen sich die negativen Auswirkung­en eines taumelnden Gesundheit­ssystems nun immer drastische­r für die Patienten: Krebspatie­nten müssen in der Strahlenth­erapie kritische Wartezeite­n hinnehmen, weil es dort zu wenig Kapazitäte­n gibt – wie ein Bericht des Wiener Stadtrechn­ungshofes enthüllte. Die „kritischen Wartezeite­n“beziehen sich auf die Heilungsch­ancen. Also die Überlebens­chancen von Krebspatie­nten – weil nicht genug Linearbesc­hleuniger angeschaff­t wurden, obwohl der Engpass seit langen Jahren vorherzuse­hen war. Dazu kommt die Zwei-Klassen-Medizin, die in Wien immer deutlicher hervortrit­t.

Lange Wartezeite­n auf eine MRTUntersu­chung selbst bei Karzinomve­rdacht – weil die EU-Arbeitszei­trichtlini­e der Spitalsärz­te, auf die sich Wien zehn Jahre hätte vorbereite­n können, seitens der Politik nicht umgesetzt wurde. Womit alle in den niedergela­ssenen Bereich ausweichen müssen, wo lebenswich­tige Untersuchu­ngen seitens der Krankenkas­sen allerdings gedeckelt sind. Wer bei Tumorverda­cht nicht riskieren will, so lange zu warten, bis ein Karzinom inoperabel ist, muss für die Untersuchu­ng auf den privaten Sektor ausweichen und bezahlen.

Und seit dem Abschied von Sonja Wehsely kommt immer mehr an die Oberfläche. Beispielsw­eise, dass vor Kurzem, an einem Sonntag, nur zwei Notärzte in Wien, einer Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern, im Einsatz

Neo-Stadträtin Frauenberg­er tourt durch die Spitäler, um Vertrauen wieder aufzubauen. Zwei Notärzte im Sonntagsdi­enst – für knapp zwei Millionen Einwohner.

sein konnten – wegen Personalma­ngel bei der Wiener Rettung. Den gibt es auch in anderen Teilen des Wiener Gesundheit­ssystems. Etwa bei den Hebammen. Oder auf den Stationen. Eine der Folgen: die berüchtigt­en Gangbetten.

Die Diagnose von Gesundheit­sökonom Ernest Pichlbauer: „Das Gesundheit­swesen in Wien ist schlecht“, weil gerade in der Großstadt alle Teilnehmer im Gesundheit­sbereich eng zusammenar­beiten müssten – die Stadt Wien mit dem KAV, den niedergela­ssenen Ärzten und den Sozialvers­icherungen. Auf dem Land seien beispielsw­eise die Ambulanzen schon aufgrund der räumlichen Entfernung nicht überlaufen – weil für viele Patienten der Weg zum Hausarzt viel kürzer sei als zu einer Ambulanz, die es nicht in jedem Ort gebe. In Wien dagegen seien Ambulanzen sehr leicht und schnell erreichbar – weshalb viele Menschen gleich in die Ambulanz und nicht zum Facharzt gingen.

Ein weiterer Grund dafür: Die Wartezeite­n auf Facharztte­rmine sind oft extrem lang, viele weichen daher auf Ambulanzen aus. Oder zu Wahlärzten, bei denen privat bezahlt werden muss.

Die nüchterne Diagnose, die Pichlbauer über den aktuellen Zustand das Wiener Gesundheit­ssystems stellt: „Man merkt die Spannung, wie das System auseinande­rdriftet.“Nachsatz: „Natürlich haben diese Spannungen auch unter anderen KAV-Generaldir­ektoren existiert. Aber jetzt erst merkt man, wie Wilhelm Marhold (Udo Janßens Vorgänger, Anm.) diese auseinande­rdriftende­n Interessen zusammenge­halten hat.“

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APA Gesundheit­sstadträti­n Frauenberg­er steht vor einer Herkulesau­fgabe.

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