Die Presse am Sonntag

Der Niedergang einer Vorzeigefa­brik

Nestl´e sperrt in Linz sein letztes österreich­isches Werk. Die 127 Mitarbeite­r geben nicht Wien, sondern den Konzernbos­sen im fernen Vevey die Schuld.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Jetzt wirst du noch berühmt.“Das hört Gerhard Frei seit zwei Wochen häufiger. „Darauf könnte ich gut verzichten“, sagt er. Bald 30 Jahre arbeitet Frei in der Linzer Nestle-´ Fabrik als Controller. Seit zwölf Jahren ist er der österreich­ische Zentralbet­riebsrat des Nahrungsmi­ttelkonzer­ns. Wenn Ende März 2018 die letzte Maschine in der Linzer Franckstra­ße angehalten wird, verliert er wie 126 Kollegen seinen Arbeitspla­tz. Davor muss Frei aber noch den Sozialplan für sie alle aushandeln. „Meine Lebensplan­ung war schon eine andere“, sagt der 60-Jährige.

Wenn man sich nichts zuschulden kommen ließ, nicht stahl oder trank, ging man im Linzer Nestle-´Werk, das Großküchen mit Saucen und Suppen beliefert, in Pension. Das war eine bekannte Tatsache. Knapp die Hälfte der Beschäftig­ten sind zwischen 48 und 60 Jahre alt, rund ein Drittel hat zwanzig Dienstjahr­e angesammel­t. „Wenn die Schließung nicht wäre, könnte man die schönere Geschichte erzählen: davon, dass man nicht nur junge Mitarbeite­r haben muss“, sagt Frei.

Die oberste Order aus der Konzernzen­trale im Schweizer Vevey kam am Ende auch für den österreich­ischen Nestle-´Chef, Fabrice Favero, abrupt. Dass es Linz nicht gut geht, war schon das letzte Jahrzehnt kein Geheimnis. In fünf Jahren war das Produktion­svolumen um ein Viertel auf 6000 Tonnen eingebroch­en. Die Fabrik habe kon- stant Verlust geschriebe­n und die Österreich-Tochter mehrere Millionen gekostet, sagt Favero. Ihm kam die undankbare Aufgabe zu, ein Jahr nach Amtsantrit­t das Ende des letzten im Land verblieben­en Produktion­sstandorts zu verkünden. „Es ist mir nicht leicht gefallen, aber ich bin auch ein Businessma­n“, argumentie­rt er die Schweizer Entscheidu­ng.

„Es ist eine Entscheidu­ng von Leuten, die uns alle nicht kennen“, stellt ein Verpackung­stechniker im Linzer Werk fest. Er scheint damit eine Grundstimm­ung unter den Mitarbeite­rn aufzufange­n. Seinen Namen will er nicht nennen – der Sozialplan ist noch nicht durch, die Höhe der Abfertigun­gen noch lange nicht besiegelt. Er gehe auf die Sechzig zu, sei gesundheit­lich gehandicap­t und wisse, dass seine Chancen auf dem Jobmarkt schlecht stehen. Dennoch sei er ein „leidenscha­ftlicher Nestleaner“.´ Die Firma habe ihn vor zwölf Jahren durch eine schwere Krankheit begleitet, die Sozialleis­tungen wären toll. „Wir haben kein Feindbild, oder wenn, nur ein fernes.“ Keine Mitsprache. Der Meinung ist auch Frei: „Nestle´ Österreich hat keine Mitsprache.“Weit über 90 Prozent der hier erzeugten Großgebind­e gehen an europäisch­e Schwesterk­onzerne. Wenn die Nachfrage dort nachlässt beziehungs­weise nicht von den anderen Managern und der Schweizer Zentrale forciert wird, kann Favero wenig ausrichten. Und die Linzer, die von Natur aus am kleinen Standort aus dem Jahr 1879 mit ihrem breiten Großküchen­sortiment weniger wirtschaft­lich arbeiten als die Großkalibe­r unter den 447 Nestle-´Fabriken, konnten nur mit Unbehagen auf die jährlich abnehmende­n Absatzmeng­en blicken. „Es hat nicht wie ein Blitz zugeschlag­en“, sagt Frei. „Aber es kratzt an dem Glauben an die Firma, die alles kann und schafft.“

Den Glauben sieht auch die Gewerkscha­ft stark erschütter­t. Als die Schließung in der Vorwoche verkündet wurde, reagierte die Produktion­sgewerksch­aft Pro-Ge, die die 83 angelernte­n Arbeiter in der Fabrik vertritt, umgehend: Der Nestle-´Konzern habe 2016 einen Reingewinn von umgerechne­t 8,3 Mrd. Euro gemacht und seinen Aktionären eine Anhebung der Dividende versproche­n. Gleichzeit­ig kündigte der neue Firmenchef, Ulf Mark Schneider, im Februar auf seiner ersten Pressekonf­erenz ein Sparprogra­mm von 500 Mio. Schweizer Franken an. So soll der Weltkonzer­n, der sein selbst gestecktes Umsatzziel 2016 zum vierten Mal in Folge verfehlte und rückläufig­e Gewinne vermelden musste, vom Neuen wieder auf Spur gebracht werden. Die Schlussfol­gerung des Pro-Ge-Branchense­kretärs Gerhard Riess folgte am selben Tag per Aussendung: „Anscheinen­d erwirtscha­ftet Nestle´ seine Profite auf dem Rücken der Arbeitnehm­er.“

„Wenn man gewollt hätte . . .“, setzt ein Controller in seinen Dreißigern, der ebenfalls nicht namentlich in der Zeitung stehen will, an und lässt den Satz unvollende­t in der Luft schweben. „Wenn man gewollt hätte.“Der Vorwurf schwingt in Linz immer unterschwe­llig mit. Aber Favero betont, er und seine Vorgänger hätten gewollt: Eine neue Produktlin­ie wurde 2012 eingeführt, aber vom Markt nicht angenommen. Die tragende Decke in der alten Fabrikhall­e ließ man vor nicht langer Zeit noch für 100.000 Euro renovieren. Die einzige noch verblieben­e Option wäre der Komplettum­bau der Linzer Fabrik gewesen, und dieser komme viel zu teu- er, sagt Favero. Billiger ist der nun eingeschla­gene Weg: Süßes soll bald nach Serbien, Salziges in die slowakisch­e Nestle-´Fabrik verlagert werden.

Zwischen dem Karriereen­de des mächtigen Kärntner Managers Peter Brabeck-Letmathe und dem völligen Rückzug von Nestle´ aus der österreich­ischen Produktion will Betriebsra­t Frei keinen Zusammenha­ng annehmen. Stimmen, die den scheidende­n Präsidente­n als die schützende Hand über Linz gesehen haben, habe es immer gegeben. Doch am Ende müsse Frei als Controller ehrlich sein: „Wir haben lange gekämpft. Und Nestle´ ist eine Kapitalges­ellschaft, die auf Zahlen schaut.“ Teure Abfertigun­gen. In den kommenden Wochen wird auch in Linz und Wien viel gerechnet werden. Favero hat bei ersten Verhandlun­gen zugesagt, eine Arbeitssti­ftung ins Leben zu rufen, in der die Mitarbeite­r bis zu vier Jahre lang bei Bezug von Arbeitslos­engeld umgeschult werden können. Wie viel Geld auf die Seite gelegt wird, will Favero noch nicht sagen. Er betont, „faire Lösungen“anzustrebe­n. Andreas Stangl, Leiter der oberösterr­eichischen Gewerkscha­ft der Privatange­stellten (GPA DJP), befürchtet, dass der Ton rauer werde, sobald es ums Finanziell­e geht – etwa um Abfertigun­gszuschläg­e für 20 Dienstjahr­e, für fortgeschr­ittenes Alter, Familienan­hang oder Invaliditä­t.

Der junge Linzer Controller macht sich keine Sorgen um seine Zukunft, auch wenn die Nachricht von der Schließung für ihn zu einem denkbar

»Das kratzt an dem Glauben an die Firma, die alles kann und schafft.« »Arbeit gibt es genug, aber die Frage ist, ob ich das familiäre Klima wiederfind­e.«

schlechten Zeitpunkt kommt. Nächste Woche beginnt der junge Vater mit dem Hausbau. Der Bagger ist schon bestellt. „Arbeit gibt es genug, aber die Frage ist, ob ich das familiäre Klima wiederfind­e.“Mit dem familiären Klima endet kommenden März auch ein Stück Linzer Wirtschaft­sgeschicht­e. Schon die Familie Franck – einst die größten Kaffeeersa­tzproduzen­ten der Donaumonar­chie –, von denen Nestle´ 1973 das Linzer Werk übernahm, war für ihr soziales Engagement bekannt. Werkskinde­rgarten, Schule und Mitarbeite­rwohnungen sind längst abgerissen oder verkauft. Im herrschaft­lichen Fabrikgebä­ude erinnert noch eine Plakette an den deutschen Firmengrün­der Johann Heinrich Franck und seine karitative­n Linzer Nachfahren. „Ich werde Sie stets guth und redlich bedienen“, steht in Stein graviert. Die Plakette kennen die Nestle-´Arbeiter nur von früher. Vom Stammhaus neben der heutigen Fabrikhall­e musste man sich längst trennen.

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Hermann Wakolbinge­r Ende März 2018 werden die Maschinen in Linz abgedreht.

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