Im Sog des Grauens: Der ewig untote Edgar
Er nahm Sherlock Holmes und Hitchcocks Psycho-Horror vorweg, Michael Jackson und Dostojewski knieten vor ihm: Über die unheimliche Welt des Edgar Allan Poe – die jetzt in einer fabelhaften Übersetzung neu zu erleben ist.
Es war der Orang Utan. Ein Orang Utan mit Rasiermesser. Die erste Detektivgeschichte der Welt hat tatsächlich ein Tier zum Täter. Zwei Frauen sind in einer Pariser Wohnung auf offenbar grässliche Weise umgekommen, alle Türen und Fenster sind verschlossen, die Polizei ist ratlos. Aber da gibt es einen Mann, der seelenruhig den Fall löst – oder besser gesagt, seinem verblüfften Freund im Detail erklärt, wie er zu dieser Lösung gelangt ist.
Hätte es Sherlock Holmes gegeben ohne Auguste Dupin, den ein halbes Jahrhundert älteren Helden in Edgar Allan Poes Geschichte „Der Doppelmord in der Rue Morgue“? Wohl nicht. „Wenn jeder, der seine Einfälle Poe verdankt, den zehnten Teil seiner Einnahmen opfern müsste, könnte diesem ein Denkmal errichtet werden, das größer ist als die Pyramiden, und ich zum Beispiel wäre einer der Baumeister“– der Satz stammt von niemand anderem als Arthur Conan Doyle.
Viele Schriftsteller nach Poe dachten ähnlich über ihn. Seine Imagination, rühmte Dostojewski, „besitzt eine Qualität, die wir in dieser Größe bisher nirgends sonst gefunden haben, nämlich die Macht des Details“. Auch für den verzweifelten Charles Baudelaire war Edgar Allan Poe mit seinen Alkohol-, Geld- und psychischen Problemen ein angebeteter Geistesverwandter. Er übersetzte, was er von ihm finden konnte, ließ das Ergebnis ab 1856, wenige Jahre nach Poes Tod, in fünf Bän- den erscheinen – und so wurde der in Amerika missachtete Poe in Europa berühmt. Diese Ausgabe kommt nun in wunderbarer Neuübersetzung von Andreas Nohl wieder heraus, der erste Band ist soeben erschienen.
Neben „Der Doppelmord in der Rue Morgue“findet sich darin auch die Dupin-Geschichte „Der entwendete Brief“. In ihr, fällt auf, raucht Auguste Dupin eine Meerschaumpfeife. Die verbinden wir heute mit der typischen Sherlock-Holmes-Optik – obwohl dieser bei Doyle ein anderes Pfeifenmodell besitzt. Er raucht sie allerdings in etlichen Filmen. Das geht auf die Theateraufführungen des Londoner Royal Court Theatre zurück, das mit SherlockHolmes-Stücken erfolgreich war und ein für das Publikum gut sichtbares Pfeifenmodell wollte. Ob die Theatermacher sich dabei auch von Poes Auguste Dupin inspirieren ließen? Pfeife hin oder her – in Doyles Geschichten gibt es jede Menge Parallelen zu Poe. Wenn Holmes etwa erklärt, warum er weiß, dass Watson am Vortag nass geworden ist und ein nachlässiges Dienstmädchen hat, ist das ein Echo jener Stelle im „Doppelmord“, wo Dupin seinem Freund erklärt, was der gerade denkt – und woraus er, Dupin, das abgeleitet hat. Poes Detektiv ist der Vorläufer aller genialen, eigenbrötlerischen Kombinierer wie Holmes oder Hercule Poirot. Auch auf die literarisch nicht gerade gängige Idee, Holmes genaue Adresse zu nennen (Baker Street 221, London), dürfte ihn Poe gebracht haben: Dupin wohnt No. 33, Rue Dunot,ˆ Faubourg St. Germain, Paris. Zum Südpol und ins All. Poe wird in der Populärkultur oft auf literarisch hochstehende Schauerromantik reduziert. Aber er war stupend vielseitig begabt, hat etwa mit einer Fantasiereise zum Südpol Jules Verne inspiriert, scheint in der Erzählung „Heureka“spätere physikalische Theorien des Universums vorwegzunehmen. Wenn er über Dupin schreibt, dass „Menschen mit wahrer Fantasie immer auch analytisch denken“, meinte er wohl auch sich selbst. Für Poe ist eine guter Analytiker nicht zuletzt einer, der weiß, was und wie zu beobachten ist. Diese Verbindung von Fantasie, Beobachtung und Analyse macht diesen Autor so herausragend.
Der Band „Unheimliche Geschichten“enthält auch „Ein Sturz in den Malstrom“, wo der für Poe so typische Sog des Unheimlichen und Grauenhaften tatsächlich ein realer Sog ist, in den der Erzähler gerät: der Gezeitenstrom bei den Lofoten-Inseln mit seinen berüchtigten Wasserwirbeln. Schon Schillers Ballade „Der Taucher“spielt an einem Malstrom, bei Poe gerät der Fischer ganz hinein: „Das Schiff hing wie durch Zauberei auf halber Höhe an der Innenseite eines Trichters von gigantischem Durchmesser, dessen vollkommen glatte Wände man für Ebenholz hätte halten können, hätten sie sich nicht mit solch atemberaubender Geschwindigkeit im Kreis gedreht und einen so unheimlich schimmernden Glanz ausgesandt, während die Strahlen des Vollmonds aus dem erwähnten runden Loch inmitten der Wolken in einer Flut goldener Pracht die schwarzen Wände hinab (...) strömten.“Der Fischer wäre kein Poe-Held, würde er nicht noch in Todesgefahr physikalische Beobachtungen anstellen.
Dupin ist das Vorbild von Holmes, Poirot und allen genial-schrulligen Detektiven.
Orte zwischen Leben und Tod. „Höchste Erkenntnis“ist bei Poe oft „gleichbedeutend mit Zerstörung“. Weil er seine Vorstellungs- und Beobachtungsgabe auf die Schrecken des eigenen Innenlebens richtete, nahm er moderne Reisen ins Unbewusste vorweg. Die seinigen sind entsetzlich, es sind Alpträume zum Angreifen. Poe war überzeugt, dass die Grenzen zwischen Leben und Tod fließend sind, dass die Realität in weite dunkle Räume reicht, er glaubte an ein psychisches Prinzip, das alles durchwirkt und verbindet. Wenn die lebendig begrabene Zwillingsschwester im „Untergang des Hauses Usher“sich auf den