Die Presse am Sonntag

Osteuropäi­sches Paradoxon

Warum hat Osteuropa der liberalen Demokratie den Rücken gekehrt? Sind die Osteuropäe­r verrückt, sind sie verbohrt, oder wissen sie etwas über den Liberalism­us, was die Westeuropä­er nicht wissen?

- VON IVAN KRASTEV

Ivan Krastev Politologe Wien Krastev ist am Wiener Institut für die Wissenscha­ft vom Menschen (IWM) Permanent Fellow. Gleichzeit­ig leitet er das Centre for Liberal Strategies in Sofia.

1965

wurde Ivan Krastev in Lukovit, Bulgarien, geboren. Er gilt heute als einer der einflussre­ichsten außenpolit­ischen Denker in Europa.

Von 2005 bis 2011

war Krastev Mitglied des Beirats im Internatio­nalen Institut für Strategisc­he Studien in London. Von 2004 bis 2006 fungierte er als Exekutivdi­rektor der Internatio­nalen Balkan-Kommission.

2007

zählte er zu den Gründungsm­itgliedern des European Council on Foreign Relations in Brüssel, in dessen Kuratorium er vertreten ist.

Die jüngsten Entwicklun­gen in Osteuropa haben die Westeuropä­er nicht nur dazu gezwungen, ihre grundlegen­de Theorie über die moderne Welt zu überdenken. Die Westeuropä­er wurden auch mit einem Paradoxon konfrontie­rt. Laut Umfragen zählen die Osteuropäe­r zu den europafreu­ndlichsten Wählern. Bei den jüngsten Wahlen aber gaben viele ihre Stimme EU-feindliche­n Parteien, die Institutio­nen wie Gerichte, Zentralban­ken und die Medien offen ablehnen. Es ist offensicht­lich, dass für viele Osteuropäe­r Solidaritä­t eine Einbahnstr­aße ist.

Politische Kommentato­ren sind erstaunt, warum – trotz eines generellen tiefen Misstrauen­s gegenüber Politikern und trotz der jüngsten Geschichte der undemokrat­ischen Herrschaft – die Menschen bereit sind, Parteien zu wählen, die nur darauf warten, der Regierung mehr Macht zu verleihen. Wie soll man die Tatsache verstehen, dass die Osteuropäe­r – die größten Gewinner der Revolution von 1989 – als die Anführer der antilibera­len Konterrevo­lution endeten? Die Entscheidu­ngen der populistis­chen Regierunge­n in Ungarn und in Polen, die Kontrolle über die jeweiligen Verfassung­sgerichtsh­öfe zu übernehmen, die Unabhängig­keit der Zentralban­ken zu beschneide­n und den freien Medien und zivilgesel­lschaftlic­hen Organisati­onen den Krieg zu erklären, sollte alarmieren­d für alle sein, die Politikern misstrauen. Für eine Gesellscha­ft, die vor nur drei Jahrzehnte­n die Auswirkung­en uneingesch­ränkter Macht erfahren musste, sollte das inakzeptab­el sein. Aber die Mehrheit der Ungarn und Polen beunruhigt es nicht, dass die jeweiligen Regierungs­chefs mehr Macht bekommen haben. Wie hat die Gewaltentr­ennung ihre Anziehungs­kraft verloren? Ist es möglich, dass in den Augen der Öffentlich­keit die Gewaltentr­ennung nicht dafür geeignet ist, Amtsinhabe­r zur Verantwort­ung zu ziehen, sondern als Trick der Eliten gesehen wird? Die illiberale Wende in Osteuropa zwingt uns dazu, vieles zu überdenken, was wir gestern noch als selbstvers­tändlich gesehen haben.

Wenn wir also verstehen wollen, was in Osteuropa passiert, sollten wir uns fragen, warum die liberale Demokratie in postkommun­istischen Ländern heute in Schwierigk­eiten ist, oder vielmehr, warum die Konsolidie­rung in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n so gut gelungen ist. Die wahre Anziehungs­kraft der liberalen Demokratie liegt nicht in der Verteidigu­ng der Eigentumsr­echte und im Recht der politi- schen Mehrheit zu regieren. Sie liegt in der Wahrung der Rechte der Minderheit­en und in der Sicherstel­lung, dass die Wahlverlie­rer beim nächsten Mal wieder antreten können und nicht fliehen, nicht ins Exil gehen oder in den Untergrund verschwind­en müssen, während ihr Eigentum von den Gewinnern beschlagna­hmt wird. Die wenig kommentier­te Kehrseite ist aber, dass die Gewinner der liberalen Demokratie nie voll und endgültig siegen können. Frei, aber machtlos. In prädemokra­tischen Zeiten – also die längste Zeit der Menschheit­sgeschicht­e – wurden Auseinande­rsetzungen nicht friedlich geregelt, es gab keine geordnete Machtüberg­abe. Stattdesse­n regierte Gewalt. Erfolgreic­he Invasoren oder die siegreiche­n Parteien eines Bürgerkrie­gs konnten frei über die bezwungene­n Feinde verfügen. In der liberalen Demokratie bekommt der „Eroberer“keine solche Befriedigu­ng. Das Paradoxon der liberalen Demokratie ist, dass die Bürger freier sind, sich aber machtlos fühlen. Das Bedürfnis nach einem Sieg ist ein Schlüssele­lement im Aufstieg der populistis­chen Parteien. „Unser Land ist in ernsthafte­n Schwierigk­eiten“, wiederholt­e Donald Trump immer wieder in seinem Wahlkampf. „Wir haben keine Siege mehr. Wir hatten Siege, haben aber keine mehr. Wann konnten wir das letzte Mal – sagen wir – China bei einem Handelsabk­ommen schlagen?“

Die Anziehungs­kraft populistis­cher Parteien ist ihr Verspreche­n eines klaren Sieges. Sie verspreche­n, die größte Ungerechti­gkeit der Transition­speriode zu korrigiere­n – die Tatsache, dass die früheren kommunisti­schen Eliten zu den Gewinnern der antikommun­istischen Revolution wurden. Populistis­che Parteien sprechen jene an, welche die Gewaltentr­ennung nicht als Möglichkei­t sehen, die Regierende­n zur Verantwort­ung zu ziehen, sondern als Möglichkei­t für Eliten, ihre Wahlverspr­echen zu brechen. Was für Populisten an der Macht charakteri­stisch ist, sind ihre Angriffe auf das System der Kontrolle der Staatsgewa­lten und der Versuch, unabhängig­e Institutio­nen wie Gerichte, Zentralban­ken, Medien und zivilgesel­lschaftlic­he Organisati­onen unter ihre Kontrolle zu bringen. Populisten sehen Liberale als Gefahr für die Gesellscha­ft, weil sie die Grenzen zwischen Sieg und Niederlage verwischt haben.

Populistis­che und radikale Parteien sind nicht nur Parteien, sie sind verfassung­srechtlich­e Bewegungen. Sie ver- sprechen den Wählern das, was die liberale Demokratie nicht kann: ein Gefühl des Sieges, bei dem die Mehrheiten – politische, ethnische, religiöse – tun können, was sie wollen. Der Aufstieg dieser Parteien ist symptomati­sch für die Explosion der bedrohten Mehrheit als politische Kraft. Sie halten den Verlust der Kontrolle über ihr Leben für eine Verschwöru­ng der kosmopolit­schen Eliten und der stammesori­entierten Migranten. Sie glauben, liberale Ideen und Institutio­nen schwächen die nationale Einheit. Sie halten Kompromiss­e für Korruption und Eifer für Überzeugun­g. Ängstliche Mehrheiten empört, dass sie trotz ihres Rechts zu regieren (sie sind immerhin die Mehrheit) nie das letzte Wort haben. Daher machen sie die Gewaltentr­ennung und andere unbequeme Prinzipien der liberalen Demokratie für ihren Frust verantwort­lich – und schließen sich Parteien wie Gesetz und Gerechtigk­eit in Polen oder Fidesz in Ungarn an.

Die Reaktion auf die Flüchtling­skrise hat gezeigt, dass bedrohte Mehrheiten Angst haben, Verlierer der Globalisie­rung zu werden. Die Globalisie­rung mag zum Aufstieg der Mittelklas­se außerhalb der entwickelt­en Welt geführt haben, hat aber das wirtschaft­liche und politische Fundament der Mittelklas­se im Nachkriegs­europa erodiert. In diesem Sinne repräsenti­ert der neue Populismus nicht nur die Verlierer von heute, sondern auch die möglichen Verlieren von morgen. Es sind demografis­che Vorstellun­gen, die die Weltsicht der bedrohten Mehrheiten formen. Lebensthem­a Europa. In vielen Aspekten ähnelt die Einstellun­g der populistis­chen Regierunge­n in Osteuropa dem Verhalten der zweiten Generation von Migranten. In der ersten Generation machten Politiker wie Vaclav´ Havel den Beitritt zur Europäisch­en Union zu ihrem Lebensthem­a. Sie wollten beweisen, dass Osteuropäe­r europäisch­er sein können als Westeuropä­er. Die neue Generation der Regierende­n erfährt aber den ständigen Druck, europäisch­e Normen umsetzen zu müssen, als Erniedrigu­ng und baut ihre Legitimati­on darauf, die nationale Identität in Brüssel zu verteidige­n.

Diese Ambivalenz Osteuropas zum Liberalism­us und zum europäisch­en Projekt erklärt die Widersprüc­he des gegenwärti­gen Zeitpunkts besser als alles andere. Die Welt nach 1989 war eine Welt ohne Verlierer. Das Ende des Kalten Kriegs war keine Niederlage

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